Dodo – Ihre erste Erinnerung waren Farben

Von Friedhelm Denkeler,

"Selbst mit Dodo", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Selbst mit Dodo«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Die ›unbewussten‹ Bilder der Dörte Clara Wolff aus den Goldenen Zwanzigern

Das fällt einem als erstes in der Ausstellung Dodo – Ein Leben in Bildern in der Kunstbibliothek auf – die leuchtenden Farben ihrer Werke.

Die 1907 in Berlin geborene Dörte ›Dodo‹ Clara Wolff beschreibt in ihrer Autobiografie ihre erste Erinnerung an Farbe, eine pinkfarbene Stoffblume am Kleid ihrer Mutter.

Nach dem Besuch einer privaten Kunst- und Kunstgewerbeschule in Berlin-Schöneberg arbeitete Dodo ab 1926 als erfolgreiche Modeillustratorin und als Karikaturistin.

Mit leichter Ironie und Erotik erzählen ihre Bilder vom Großstadtleben der Goldenen Zwanziger Jahre, von modernen Lebensformen und dem Wandel der Geschlechterbeziehungen. Dodo hatte künstlerischen Erfolg, genoss die als Frau zu dieser Zeit neu gewonnenen Freiheiten und würde heute sicher als „It-Girl“ mit Niveau bezeichnet werden.

"Sabine mit Dodo", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
„Sabine mit Dodo“, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Einen sehr spannenden und ganz persönlichen Bereich nehmen die unbewussten Bilder zwischen 1933 und 1937 ein. Private Turbulenzen ist dieser Teil der Ausstellung betitelt und er wirkt fast zu harmlos für das, was nun zu sehen ist.

Dodos Ehe mit dem 25 Jahre älteren Anwalt Hans Bürgner war von Enttäuschungen, ungleichen Lebensauffassungen und der Geburt zweier Kinder geprägt. Dann lernte sie auch noch die Liebe ihres Lebens, den Psychoanalytiker Gerhard Adler kennen.

Dies alles führte zu starken, inneren Konflikten, aus denen eben jene intime Werkgruppe entstanden ist. Dodo selbst bezeichnet sie als ›unbewusste Traumbilder‹.

1936 emigriert Dodo nach London und versuchte dort als Werbegrafikerin und Buchillustratorin an die früheren Berliner Erfolge anzuknüpfen. Sie starb 1998 im Alter von 91 Jahren. Jetzt erzählt die Ausstellung in der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin bis zum 28. Mai 2012 noch einmal ihr zu Unrecht in Vergessenheit geratenes Leben in Bildern.

Anselm Kiefer und die Buchstaben-Maschine

Von Friedhelm Denkeler,

Die Ausstellung »Art and Press« im Berliner Martin-Gropius-Bau macht Schlagzeilen

Der erste Gang im Martin-Gropius-Bau führt in der Regel in den Lichthof. Hier schlägt zurzeit auch das Herz der Ausstellung Art and Press in Form der Monumental-Skulptur Die Buchstaben von Anselm Kiefer. Der 67-Jährige Künstler stellte alte, mit Sonnenblumen verzierte Druckmaschinen in den Renaissancebau an der Niederkirchnerstraße. Diese gewaltige Rauminstallation ist eine Hommage an Johannes Gutenberg und die Entstehung des Buchdrucks. Sie steht symbolisch für die Geschichte unserer Zivilisation, denn diese wäre ohne Schrift, ohne das Buch und ohne die Zeitung nicht denkbar.

"Die Buchstabenmaschine von Anselm Kiefer", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Die Buchstabenmaschine von Anselm Kiefer«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Die drei maroden Druck- und Setzmaschinen wirken wie bleierne Dinosaurier aus einer allzu fernen, fremden Welt. Auf dem Boden liegen verstreut die Bleibuchstaben umher. Somit zeigt die Installation gleichzeitig den Verlust dieser Buchstaben, die über Jahrhunderte per Hand durch die Drucker gesetzt wurden. Für Kiefer begann ein Prozess der Verarmung, als nicht mehr manuell gesetzt wurde. Eine Metapher über das Entstehen von Wissen, Vergänglichkeit und Zukunft, die am Eröffnungsabend gerne digital im Bild festgehalten wurde.

Auf der fünf Meter hohen Schiefertafel (im Hintergrund des Fotos) sind Worte wie Stille oder Wimpernfeuer mit Kreide in Schönschrift eingeschrieben. Es handelt sich um Zeilen aus Paul Celans Abend der Worte. Auch diese Kreideschrift wirkt im Jahr 2012 schon leicht antiquiert. Kiefer zeigt mit der mächtigsten Installation dieser Ausstellung, dass man heutzutage Buchstaben nicht mehr fühlen kann. Die digitale Revolution frisst ihre Kinder. Das Werk wurde extra für diese Ausstellung geschaffen.

Eine so hochkarätig besetzte Ausstellung, die der Frage nach Wahrheit und Wirklichkeit in den Medien nachgeht, war wohl noch nie zu sehen. Die Ausstellung, in der mehr als 50 Künstler wie Ai Weiwei, John Baldessari, Christian Boltanski, Gilbert & Georg, Andreas Gursky, Damien Hirst, Anselm Kiefer, Markus Lüpertz, Mario Merz, Robert Rauschenberg, Thomas Ruff, Julian Schnabel und Andy Wahrhol zeitgenössische Kunst zum Thema Kunst und Presse zeigen, ist noch bis zum 24. Juni 2012 zu sehen (siehe auch mein Post Gilbert & George – Vom Londoner Zeitungsboulevard in den Berliner Gropius-Bau). www.artandpress.de

Gilbert & George – Vom Londoner Zeitungsboulevard in den Berliner Gropius-Bau

Von Friedhelm Denkeler,

Die Ausstellung »Art and Press« im Berliner Martin-Gropius-Bau macht Schlagzeilen

Nachdem wir vor fast einem Jahr die große und großartige Ausstellung Jack Freak Pictures des Londoner Künstlerpaars Gilbert & George in den Hamburger Deichtorhallen sehen konnten (siehe Gilbert & George: Jeder ist sein eigener Freak) konnten wir das Paar gestern Abend, während der Eröffnung der Ausstellung Art and Press im Berliner Martin-Gropius-Bau, live inmitten ihrer jüngsten Werke aus dem London Pictures-Zyklus erleben. Sie präsentierten nicht nur ihr Werk, sondern auch sich selbst als lebende Skulpturen.

"Gilbert & George im Martin-Gropius-Bau", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Gilbert & George im Martin-Gropius-Bau«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Gilbert & George haben Fotos von den ›Schürzen‹ gemacht, die an den Kiosken mit reißerisch aufgemachten Plakaten für die aktuelle Ausgaben der Boulevard-Zeitungen werben. Die Fotos dieser Plakate, die sich auf wenige Informationen, wie Raub, Entführung, Mord und brutale Übergriffe beschränken, wurden von den Künstlern präzise bearbeitet. Zwischen den Schlagzeilen blicken uns Augenpaare, sicherlich die der Künstler, an, aber es könnten auch die der Leser gemeint sein, die die Schlagzeilen tagtäglich im Straßenbild erblicken.

Diese Arbeit passt wunderbar zum Thema der Ausstellung Art and Press. Gilbert & George bringen das Verhältnis von Kunst und Medien auf eine einfache Formel Kunst braucht die Presse, die Presse schafft Öffentlichkeit. Aus 2700 Zeitungsplakaten schufen die Künstler 292 Werke, die zurzeit auch in London in den White Cube Gallerien zu sehen sind.

Die Ausstellung, in der mehr als 50 Künstler wie Ai Weiwei, John Baldessari, Christian Boltanski, Gilbert & Georg, Andreas Gursky, Damien Hirst, Anselm Kiefer, Markus Lüpertz, Mario Merz, Robert Rauschenberg, Thomas Ruff, Julian Schnabel und Andy Wahrhol, zeitgenössische Kunst zum Thema Kunst und Presse zeigen, teilweise mit extra für diese Ausstellung konzipierten Werken, ist noch bis zum 24. Juni 2012 zu sehen und ich hoffe, sie ein zweites Mal, ohne das Eröffnungswirrwarr, wahrnehmen zu können. Eine ausführliche Besprechung soll folgen. www.artandpress.de, Video

Das Studio ist für mich eine sterile Welt!

Von Friedhelm Denkeler,

C/O Berlin zeigt mit »Masterclass« die meisterhaften Porträtfotografien von Arnold Newman

Ich wusste, dass ich mich zwischen Malerei und Fotografie entscheiden musste und erkannte, dass nicht beides gleichzeitig ging. Ich entschloss mich, meine ganze Energie in die Fotografie zu stecken.

"Porträt am Kanzleramt", Foto © Friedhelm Denkeler 2002
»Porträt am Kanzleramt«, Foto © Friedhelm Denkeler 2002

Sieben Jahrzehnte lang widmete sich Arnold Newman (1918–2006, New York) der Kunst der Porträt-Fotografie. Seine Arbeiten wurden in den einflussreichen Zeitschriften wie Harper’s Bazaar, Life, Look und New Yorker veröffentlicht und finden sich in den bekanntesten Foto-Sammlungen der Welt. Seit 1941 widmete er sich hauptsächlich dem Genre Künstlerporträt. Seit 1968 hielt er auch Vorlesungen und Workshops ab.

Die bestens konzipierte Ausstellung mit über 200 schwarz-weißen Vintageprints gibt in zehn Kapiteln unter den Schlagwörtern Suche, Auswahl, Lebensräume, Licht, Markierungen, Fassaden, Verflechtungen, Geometrien, Sensibilität und Rhythmen, einen guten Einblick in Newmans Schaffen und in seine Arbeitsweise wieder.

Newmans erste fotografische Arbeiten sind von der dokumentarischen Arbeit der Farm Security Administration (FSA), insbesondere der von Walker Evans, beeinflusst. Hier entwickelte er, nach den Anfängen als Maler, seine Arbeit hin zum Porträtfotografen. Er legte auf den richtigen Ausschnitt großen Wert und dies nicht nur bei der Aufnahme und war vom Beschneiden in der Dunkelkammer überzeugt. Ausbelichtungen akzeptierte er nur, wenn sie makellos waren.

Seine Porträts erstellte Newman weniger in den Studios als dort, wo seine Modelle arbeiteten und lebten. Persönlichkeit und Charakter prägte nicht allein der Gesichtsausdruck, sondern auch Dinge, mit denen sich die Abgebildeten umgaben. Natürliches Licht nutzte er gerne, aber wenn es nicht das „richtige“ war, setzte er auch künstliches ein. So gibt es in seinen Bildern subtile, manchmal auch dramatische Lichteffekte.

Newman hat viele Künstler, Architekten und Designer fotografiert, vor und neben ihren, oft noch unfertigen Werken. Auf den ersten Blick könnte man denken, sie wurden bei der Arbeit überrascht, so natürlich wirken die Bilder. In Wirklichkeit war die Anordnung sehr sorgfältig gewählt. Doppelbelichtungen, Sandwich-Negative und Collagen gehörten gleichfalls zu Newmans Repertoire.

In den Porträts einflussreicher Menschen, insbesondere aus der Politik, sieht man, dass viele „ein Gesicht“ aufsetzten. Newman hat dann eben dieses Gesicht als Kern der Persönlichkeit meisterhaft festgehalten. Es war ihm bewusst, dass gerade auch Künstler immer wieder Zweifel an ihrer Arbeit haben und gleichzeitig stolz auf ihr Werk sind. Dieser Zwiespalt findet sich in seinen Porträts wieder. Linien und Kurven, kontrastierende Bildteile in Schwarz und Weiß, starke Diagonalen ergeben in seinen Werken ein harmonisches und dynamisches Ganzes.

Oh, es gibt diese unsinnigen Regeln und Vorschriften. Du darfst nicht beschneiden, du darfst deinen Abzug nicht bearbeiten, etc., etc. … Aber alle bedeutenden Fotografen, die von diesen Menschen bewundert werden, haben genau das getan!

Das professionelle Studio ist für mich eine sterile Welt. Ich muss nach draußen; die Menschen dort treffen, wo sie zu Hause sind. Ich kann zwar nicht Ihre ‚Seele‘ fotografieren, aber ich kann etwas Wesentliches von ihnen erzählen.

Fotografie ist sehr unwirklich. Man nimmt eine dreidimensionale Welt und reduziert sie auf zwei Dimensionen. Man nimmt Farbe und reduziert sie auf Schwarz und Weiß. Und man hält den Fluss der Zeit an. Es steckt viel Trügerisches in der Fotografie. Das muss man erkennen und darauf bauen. Und das gibt dann vielleicht Kunst.

Diese Ausstellung, die man wegen der hervorragenden Prints unbedingt im Original sehen muss, ist noch bis zum 20. Mai 2012 zu sehen. Alle Zitate stammen von Arnold Newman. www.co-berlin.info, http://www.arnoldnewmanarchive.com/

Neue Aufmerksamkeit für die Polaroid-Fotografie

Von Friedhelm Denkeler,

Künstler lieben die Polas – sie sind absolute Unikate

"Tulips", Foto © Friedhelm Denkeler 1985
»Tulips«, aus dem Portfolio Polaroid SX-70-Art Foto © Friedhelm Denkeler 1985

Als im Jahr 2008 das Unternehmen Polaroid das Ende der Produktion von Sofortfilmen bekannt gab, war dies scheinbar auch das Ende der analogen Sofortbild-Fotografie.

Vermeintlich hatte dies die Ausstellungsmacher im Jahr 2011 beflügelt, Sofortbilder zu präsentieren um ihnen eine neue Aufmerksamkeit zu schenken. Auch ich habe mir im letzten Jahr vier Schauen angesehen:

Horst Ademeit – Das Polaroid als Wundermittel gegen die Kältestrahlung

Sibylle Bergemann – Melancholische und magische Momente des Lebens

Helmut Newton – Das Unvollkommene am Perfekten

Cy Twombly – Schenkst der Rose Schweigen ein

Insbesondere hat die Übernahme des europäischen Teils der berühmten, zwischen 1970 und 1990 entstandenen Polaroid-Sammlung des Unternehmens Polaroid durch die Wiener Fotogalerie Westlicht mit 4400 Sofortbildern von 800 Künstlern Aufsehen erregt. 2011 zeigte die Galerie eine erste Überblicksausstellung mit rund 500 Werken.

Inzwischen gibt es wieder Sofortbildfilme unter der Marke [Im]possible zu kaufen. Sie werden in Österreich in einer alten Polaroidfabrik produziert. Das Material scheint noch nicht so gut geeignet zu sein, aber Künstler experimentieren bereits damit. Bedingt durch die technisch perfekten und überarbeiteten Digitalbilder, gibt es ein neues Interesse an Authentizität und Wirklichkeit, nach Unschärfe und falschen Farben. Aber es geht auch um Nostalgie.

Insbesondere die eigene, unvergleichliche Ästhetik der Polaroids, die die Farbigkeit und die Kontraste des fotografierten Gegenstandes unvorhersehbar verändert, macht die experimentelle Technik auch für den heutigen Betrachterblick interessant. [Kurator der Newton-Ausstellung].

Natürlich muss man auch sehen, dass durch die Digitalisierung das Konservieren der Foto-Arbeiten (insbesondere der Farbbilder) aus den 1960er und 1970er Jahren so erst ermöglicht wird. Trendgemäß habe ich mich mit den eigenen Polaroid-Fotos, die in den 1980er Jahren mit einer Polaroid SX-70 entstanden sind, beschäftigt.

Eine Auswahl von 92 Fotos ist mittlerweile eingescannt und ein Künstlerbuch ist erschienen. Eine Auswahl dieser Polaroids finden Sie auf meiner Website www.denkeler-foto.de. Anhand der geplanten drei Artikel wird es eine Übersicht über meine zwischen 1980 und 1990 entstandenen Polaroid-SX-70-Fotos geben.

Richter und Selbst in elf Scheiben

Von Friedhelm Denkeler,

"11 Scheiben, Gerhard Richter, Neue Nationalgalerie Berlin", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»11 Scheiben, Gerhard Richter, Neue Nationalgalerie«, Kulturforum, Berlin, Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Gerhard Richter in der Neuen Nationalgalerie«, Kulturforum, Berlin, Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Gerhard Richter in der Neuen Nationalgalerie«, Kulturforum, Berlin, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Kupfer und Wolken

Von Friedhelm Denkeler,

Start der neuen Kategorie »Sonntagsbilder« im JOURNAL

Was ist eigentlich ein Sonntagsbild? Ein ›schönes‹ Bild (was auch immer das nun wieder heißen mag; der Autor legt den Titel quasi mit dem Foto fest); es ist in Farbe (jedenfalls bei meinen Sonntagsbildern); es passt in keine andere Kategorie; es gehört nicht zu einer Serie von Bildern und zu keiner Serie. Kurz gesagt: Es ist ein Einzelbild. Aber es ist kein Sonntagsbild im Sinne der Sonntagsmalerei. Viel Spaß beim Betrachten der Bilder.

»Kupfer und Wolken«, Volkspark Potsdam, aus dem Portolio »Sonntagsbilder«, Foto © Friedhelm Denkeler 2002
»Kupfer und Wolken«, Volkspark Potsdam, aus dem Portolio »Sonntagsbilder«, Foto © Friedhelm Denkeler 2002

Zwischen tiefer Nacht und ewiger Dämmerung – Ein deutsches Melodram in Hammerfest

Von Friedhelm Denkeler,

Matthias Glasner mit »Gnade« mit Jürgen Vogel und Birgit Minichmayr

"Matthias Glasner, Birgit Minichmayr und Jürgen Vogel im Berlinale-Palast", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Matthias Glasner, Birgit Minichmayr und Jürgen Vogel im Berlinale-Palast«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Aller guten Dinge sind drei: Der gestern gesehene dritte deutsche Wettbewerbsbeitrag auf der Berlinale »Gnade« von Matthias Glasner war denn auch der beste von den Dreien (Christian Petzold mit Barbara, Hans-Christian Schmid mit Was bleibt).

Glasner erzählt eine Geschichte, die vom Anfang bis zum Ende stimmig ist und die, das ist gegenüber den anderen Filmen eher die Ausnahme, deutlich Stellung bezieht. Das ist mutig und provokant, in einer Zeit, wo man sich am liebsten hinter Anwälten versteckt und zu keiner eigenen Stellungnahme fähig ist.

Er führt die Zuschauer von der Dunkelheit ins Licht und dazu sind die herrlichen Landschafts-aufnahmen in der Dämmerung (teilweise aus größerer Höhe gefilmt) einprägsam und absolut stimmig. Selbst die Lichtstimmung im Haus, mit dem Blick aus dem Fenster in die Polarnacht, ist einmalig. Aber das muss man selbst sehen.

Jürgen Vogel und Birgit Minichmayr sind auf dem Höhepunkt ihres künstlerischen Schaffens und mit Henry Stange konnten wir einen weiteren großartigen Kinderdarsteller der diesjährigen Berlinale sehen. Matthias Glasner hat sich in seinem Drama „Der freie Wille“ (Berlinale Wettbewerb 2006) schon einmal ausführlich mit der dunklen Seite der menschlichen Seele beschäftigt. Diesmal allerdings findet er einen versöhnlichen Ausgang, der mit dem Wort „Happyend“ nur höchst unzureichend beschrieben wäre. Seelenfrieden wäre passender. Der Film liefert die Bilder, aber die eigentliche Arbeit findet im Kopf statt. Besser kann man einen Film nicht machen.

Der Film »steuert, ohne jemals zu übersteuern, in die Tragödie – und löst sie in einer stillen, kathartischen Szene auf, wie man sie so makellos im Kino lange Zeit nicht gesehen hat« schreibt DER TAGESPIEGEL und DIE ZEIT zieht folgendes Fazit: «Gnade ist ein hervorragend gespieltes Psychodrama, und man kann Glasner Anerkennung entgegen bringen für so viel Klarheit in dem Glauben an seine positive Utopie, dass Vergebung auch unter unwahrscheinlichen Umständen möglich ist.« Besser kann Kino nicht sein und einen Silbernen Bären müsste der Film erhalten, denn der Goldene geht erfahrungsgemäß an einen politisch brisanten Beitrag.

Hammerfest liegt am äußersten nordwestlichen Zipfel von Norwegen am Polarmeer. Zwischen dem 22. November und dem 21. Januar schafft es die Sonne nicht über den Horizont. Zwischen tiefer Nacht und ewiger Dämmerung träumt die Stadt in eisiger Kälte vor sich hin. Hierhin hat es ein deutsches Ehepaar mit seinem Sohn verschlagen. Niels arbeitet als Ingenieur in der größten europäischen Erdgasverflüssigungsanlage auf einer kleinen Insel vor Hammerfest. Maria ist mit ihm gegangen, um ihm seinen Karrieresprung nicht zu versperren. Sie ist Krankenschwester in einem Hospiz für Schwerstkranke. Nebenher züchten die beiden Schafe. Sie haben sich an die fremde, manchmal irreal erscheinende Welt der Nachtschattenspiele offenbar gut angepasst. Eines Tages wird Maria jedoch auf ihrer Heimfahrt in einen Unfall verwickelt. Sie hat etwas oder jemanden überfahren. Außerstande sich der Situation zu stellen, rast sie in Panik nach Hause. Im Fortgang des Geschehens kommen existenzielle Fragen auf. Kann man ohne Gnade und Vergebung leben? Ein kammerspielartiges Melodram in großen Kinobildern.
[Quelle: Filmbeschreibung] Filmtrailer

Was bleibt von Gitte, Günther, Marko, Tine, Jakob, Ella, Susanne und all den anderen?

Von Friedhelm Denkeler,

Hans-Christian Schmid mit »Was bleibt«

"Corinna Harfouch, Lars Eidinger und Hans-Christian Schmid im Berlinale-Palast", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Corinna Harfouch, Lars Eidinger und Hans-Christian Schmid im Berlinale-Palast«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Nun also der zweite von den drei deutschen Filmen des Wettbewerbs: Hans-Christian Schmid mit »Was bleibt«. Genau diese Frage stellt man sich am Ende des Kammerspiels auch! Wahrscheinlich nicht viel, denn Gitte (Corinna Harfouch) löst sich am Ende des Wir-treffen-uns-alle-mal-wieder-Heimfahr-Wochenendes einfach auf.

Die Probleme dieser Wochenenden im Rest der Republik kennen sicher viele zugewanderte Berliner. Man telefoniert einmal in der Woche und spricht dann über äußere Befindlichkeiten. Man sieht sich vielleicht zweimal im Jahr oder vielleicht auch nur zu Weihnachten. Und das reicht vollkommen, denn sehr harmonisch verlaufen diese Besuche meistens nicht. Die ältere Generation weiß von der jüngeren nicht wirklich, was sie beschäftigt. Keiner will sich eine Blöße geben. Die Verständigung wird immer mühsamer, man hat sich auseinandergelebt.

In einer der schönsten Szenen des Familiendramas singen Marko, Gitte und Günter »Du bist so komisch anzusehen … Ich kann dich einfach nicht mehr seh’n!« (Charles Aznavour). Die Art, wie die Drei dabei miteinander umgehen, ist symptomatisch für die Familie. Solche verdichteten Szenen hätte ich mir mehr von Schmid gewünscht. Da klang etwas, an den am Tag zuvor gesehenen Billy Bob Thornton und sein Jayne Mansfield’s Car, an.

Auch bei Schmid spielt, wie in Christian Petzold’s Barbara der Deutsche Wald eine zentrale Rolle: In einer weiteren guten Szene sucht Marko die verschwundene Mutter im dunklen Wald. Er stolpert, verletzt sich, schläft ein und träumt von seiner Mutter mit der nun am Lagerfeuer sitzt, sie sich unterhalten und verstehen.

Die Figuren bleiben schablonenhaft in ihren Rollen gefangen und vielleicht hätte Papa seinem Sohn schon eher den Geldhahn zudrehen sollen, dann hätte zumindest dieser, das wahre Leben eher spüren dürfen. Zuviel Trübsal auf hohem Niveau. Hans-Christian Schmid ist nach «Lichter», «Requiem» und «Sturm» nun bereits zum vierten Mal im Berlinale-Wettbewerb.

Marko ist Anfang dreißig und lebt seit seinem Studium in Berlin – weit genug entfernt von seinen Eltern Gitte und Günter, mit deren bürgerlichen Lebensentwurf er sich nie recht anfreunden wollte. Ein, zwei Mal im Jahr besucht er die beiden, in erster Linie um ihnen ein paar gemeinsame Tage mit ihrem Enkel, Markos fünfjährigem Sohn Zowie, zu ermöglichen. Marko hofft auf ein halbwegs ruhiges Wochenende in der Kleinstadt, doch es gibt Neuigkeiten: Gitte, die seit Markos Kindheit manisch-depressiv ist, fühlt sich nach einer homöopathischen Behandlung zum ersten Mal seit langer Zeit wieder gesund. Sie verzichtet auf ihre Medikamente und baut auf einen gemeinsamen Lebensabend an der Seite ihres Mannes, nicht ahnend, dass sie mit ihrer unerwarteten Genesung seine Pläne durchkreuzt. Auch Markos jüngerer Bruder Jakob und dessen Lebensgefährtin Ella stehen an einem Wendepunkt, denn Jakob richtet sich mehr und mehr auf ein Leben in Blicknähe zu seinen Eltern – vor allem zu Gitte – ein, Ella hingegen würde gern ihre beruflichen Pläne erst mal im Ausland weiterverfolgen. Markos Anwesenheit wirkt wie ein Katalysator, er provoziert die Konfrontation mit den unausgesprochenen Wahrheiten, die Fassade des harmonischen Familienlebens bröckelt. [Quelle: Filmbeschreibung] Filmtrailer

Von Oldtimersammlern, autoritären Vätern und Hippies in Alabama

Von Friedhelm Denkeler,

Billy Bob Thornton mit »Jayne Mansfield’s Car« mit Billy Bob Thornton, John Hurt und Kevin Bacon

 "Billy Bob Thornton mit seinem Film-Team im Berlinale Palast", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Billy Bob Thornton mit seinem Film-Team im Berlinale Palast«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Billy Bob Thornton, der nicht nur Regie führte, sondern auch die Hauptrolle des Skip Caldwell in »Jayne Mansfield’s Car« übernahm, war für mich eine Neuentdeckung.

Seine Rolle als traumatisierter, arbeitsunfähiger Kriegsveteran spielt er in den hinreißend komischen Wendungen des Films bewundernswert gut. Dafür hat er einen Bären verdient.

Treffen eine englische und eine amerikanische Familie aufeinander, so ist eine Komödie gesichert. Wunderbar skurrile Einfälle wechseln sich mit melancholischen Momenten ab. Süßlich kitschige Farben der 1970er Jahre, der Sound dieser Zeit, Kostüme, Frisuren und Oldtimer ergeben ein rundum stimmiges, humorvolles Familiendrama. Fein beobachtet, werden die einzelnen Charaktere als Stellvertreter für ganze Generationen präsentiert. So kennt und liebt man eben nur seine Familie.

Und wie so oft, steckt auch viel Autobiographisches im Film. Seinem Filmvater hat Thornton ein makabres Hobby gegeben: Er hört zuhause den Polizeifunk ab und wenn ein Unfall passiert, fährt er an den Unfallort und inspiziert das Autowrack und die Toten. Thornton erzählte auf der Pressekonferenz, wie sein Vater ihn als Vierjährigen mit zu den Unfallorten genommen hat. Und auch den ausgestellten Unfallwagen von Jane Mansfield in einer Art Jahrmarktbude, mit dem sie unter einen Sattelschlepper geriet, hat er gegen Eintrittsgeld gesehen. Eine kunstgerechte Balance aus Trauer und Vergnügen, Kriegstraumata und rechtzeitigem Zurechtfinden in das Leben und die Zukunft. Schön!

Alabama, 1969. Jim Caldwell erfährt, dass seine Ex-Frau verstorben ist. Vor vielen Jahren hat sie ihn und die drei Kinder wegen eines Engländers verlassen. Ihre neue Familie, der Witwer mit zwei Kindern, will ihren letzten Wunsch erfüllen und sie in ihrer alten Heimat beisetzen. So treffen nicht nur die beiden Väter aufeinander, sondern auch die Stiefgeschwister. Jim ist ein typischer Vertreter der autoritären Generation, der seinen Kindern ein gerechter, aber kein liebevoller Vater war. Er muss nicht nur mit den Eskapaden seiner beiden Söhne zurecht kommen – der eine seit seiner Verwundung im Vietnamkrieg nur noch auf seine Autosammlung fixiert, der andere ein stets zu gedröhnter Antikriegs-Protestler – sondern auch mehr Toleranz für die ungebetenen britischen Gäste aufbringen, als ihm lieb ist. Oscarpreisträger Billy Bob Thornton erzählt in seiner ersten Regiearbeit seit „Daddy And Them“ (2001) davon, wie mit seinen männlichen Protagonisten unterschiedliche Kulturen und Generationen aufeinandertreffen – in einer Zeit, als der Vietnamprotest auch die Südstaaten erreicht. Der Film ist das erste englischsprachige Projekt des russischen Produzenten Alexander Rodnyansky (V SUBBOTU, Berlinale Wettbewerb 2011) [Quelle: Filmbeschreibung]

Die Liebe ist auch eine Himmelsmacht

Von Friedhelm Denkeler,

Spiros Stathoulopoulos mit »Metéora«

"Theo Alexander und Tamila Koulieva im Berlinale Palast", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
Theo Alexander und Tamila Koulieva im Berlinale Palast, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Das erwartet man nicht unbedingt von einem Film, der im Kloster spielt – die schönste Liebesszene, die in den letzten Jahren im Kino zu sehen war.

Diese Liebesgeschichte an sich, ist eigentlich unmöglich: In zwei von der Welt abgeschotteten Klöstern, die einander auf zwei Felsspitzen gegenüber liegen, lieben sich der Mönch Theodorus (Theo Alexander) und die Nonne Urania (Tamila Koulieva).

Die Geschichte des Paares erzählt Stathoulopoulos anhand der großartigen Landschaft in Thessalien mit den bizarren, hochaufragenden Felsen, die meistens halb im Nebel verborgen liegen und anhand der per Legetrick animierten Tafelbilder aus der christlichen Ikonographie.

Ausgangspunkt ist ein Triptychon mit den drei Hauptdarstellern: in der Mitte Metéora, links die Nonne und rechts der Mönch. Plötzlich bewegen sich die Figuren aus der Ikone heraus, verirren sich in einem Labyrinth und finden über eine Sintflut aus dem Blut Christi wieder zueinander.

Natürlich fragt man sich am Ende des Films, ob in der heutigen, aufgeklärten Zeit solche Bilder mit archaisch/ religiösen Motiven wie Selbstkasteiung, Kreuzigung oder Häutung einer Ziege notwendig sind. Aber der ganze Film steuert auf den Liebesakt zu mit der alles entscheidenden Frage: Verzweifeln und Aufgeben oder die Liebe als höhere Fügung akzeptieren. Der Film hat einen Bären verdient.

Auf den Gipfeln imposant aufragender Sandsteinfelsen liegen die legendären Metéora-Klöster in Thessalien. Der Film erzählt die Geschichte zweier Klosterbewohner. Der griechische Mönch Theodoros lebt in spiritueller Einsamkeit mit den immer gleichen Gesängen und Ritualen. Das Refugium der Nonne, die im russisch-orthodoxen Kloster auf dem Felsen gegenüber lebt, ist so unzugänglich, dass sie sich mit einem Netz abseilen lassen muss, um den Boden zu erreichen. Theodoros, der zwischen seiner spirituellen Berufung und dem einfachen bäuerlichen Leben zu Füßen von Metéora hin- und hergerissen ist, fühlt sich zu der Frau hingezogen. Der Regisseur erzählt die zarte Liebesgeschichte mit der Schlichtheit eines frommen Gedichts. Immer häufiger treffen sich die beiden, deren Liebe den Klosterregeln widerspricht. Dass die Liebe jedoch eine Himmelsmacht ist, der man sich fügen sollte – das wird in diesem fast dialogfreien Film wörtlich genommen. [Quelle: Filmbeschreibung] Trailer, Metéora-Klöster

Von der Freiheit zu gehen und der Freiheit zu bleiben

Von Friedhelm Denkeler,

Christian Petzold mit »Barbara«

Gestern Abend startete der erste von drei deutschen Filmen der Berlinale ins Rennen und vielleicht auch um einen der Bären – Christian Petzolds »Barbara«. Es ist ein handwerklich solider, schöner Film geworden, aber die Geschichte ist absehbar, einige Wendungen mehr hätten dem Film gut getan.

"Nina Hoss und Ronald Zehrfeld im Berlinale Palast", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
Nina Hoss und Ronald Zehrfeld im Berlinale Palast, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Trotzdem: Der Film lebt von und mit der exzellent spielenden Nina Hoss. Viel Lob von den Kritikern. Ein Rätsel – das ist positiv gemeint – bleibt am Schluss: Wie kann man in einem untergehenden System leben, wie in solch einer Atmosphäre Menschen vertrauen? Hat man die Freiheit zu gehen oder zu bleiben überhaupt?

Vielleicht schlägt sich der Film auch mit zu vielen Klischees der DDR herum: Es herrscht eine Grund-Muffigkeit vor, sowohl bei den handelnden Personen, den Häusern und Straßen und der schlechten Ausstattung der Krankenhäuser. Oder war es wirklich so schlimm? Christian Petzold betonte in der Pressekonferenz allerdings mehrmals, es sei ihm nicht darum gegangen, die DDR zu rekonstruieren.

Die düsteren Landschafts-aufnahmen sind hervorragend gelungen. Die Szenen, in denen Barbara mit dem Fahrrad in der Abenddämmerung auf einem Feldweg, entlang vom Sturm gepeitschter Bäumen von der Klinik nach Hause fährt, werden in Erinnerung bleiben. Der Sehsinn wird geschult, aber auch der des Hörens: Petzold verzichtet auf Musik als reine Untermalung, auf den Klangbrei.

Der Film spielt in Mecklenburg-Vorpommern, gedreht wurde er aber in Kirchmöser, einem Ortsteil der Stadt Brandenburg an der Havel. Diese alte Arbeitersiedlung aus den 1920er Jahren steht heute unter Denkmalschutz und genau dort steht auch das Krankenhaus, das seit sieben Jahren nicht mehr benutzt wird und nun als Filmkulisse diente.

Sommer 1980 in der DDR. Die Ärztin Barbara hat einen Ausreiseantrag gestellt. Nun wird sie aus der Hauptstadt in ein kleines Provinzkrankenhaus strafversetzt. Jörg, ihr Geliebter aus dem Westen, bereitet ihre Flucht über die Ostsee vor. Barbara wartet. Die neue Wohnung, die Nachbarn, der Sommer und das Land, all das berührt sie nicht mehr. Sie arbeitet in der Kinderchirurgie unter Leitung ihres neuen Chefs André – aufmerksam gegenüber den Patienten, distanziert gegenüber den Kollegen. Ihre Zukunft fängt später an. André verwirrt sie. Sein Vertrauen in ihre beruflichen Fähigkeiten, seine Fürsorge, sein Lächeln. Warum deckt er ihr Engagement für die junge Ausreißerin Stella? Ist er auf sie angesetzt? Ist er verliebt? Barbara beginnt die Kontrolle zu verlieren. Über sich, über ihre Pläne, über die Liebe. Dann rückt der Tag ihrer geplanten Flucht näher. Nach „Gespenster“ (2005) und Yella (2007) stellt Christian Petzold seinen dritten Film im Wettbewerb der Berlinale vor. Wieder steht eine Frau im Mittelpunkt, die sich wie ein Phantom durch ihr eigenes Leben bewegt. Es ist ein Leben, in dem sich die Überwachung und die Angst davor tief in die menschlichen Beziehungen eingeschrieben haben. [Quelle: Filmbeschreibung] Trailer

Seit ich der Kunst begegnet bin, ist diese Zelle für mich ein Gefängnis geworden!

Von Friedhelm Denkeler,

Paolo und Vittorio Taviani mit »Cäsar muss  sterben«

"Paolo & Vittorio Taviani im Berlinale Palast", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
Paolo & Vittorio Taviani im Berlinale Palast, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

In den neuen, zwischen Dokumentation und Fiktion angesiedelten Film »Cesare deve Morire« der mittlerweile 80 und 82 Jahre alten Taviani-Brüder muss man sich erst einsehen. Dann nimmt der Film einen gefangen und das nicht nur, weil er an einem Originalschauplatz, in einem römischen Gefängnis gedreht wurde.

Die Spannung hält bis zum Ende des Films und gipfelt in dem gleichzeitigen Höhepunkt mit dem Ausspruch eines Gefangenen/ Schauspielers »Seit ich der Kunst begegnet bin, ist diese Zelle für mich ein Gefängnis geworden«.

Durch die Beschäftigung mit der Kunst bekommen die Darsteller, allesamt Strafgefangene im Hochsicherheitstrakt, ein neues Selbstverständnis. Der Film macht Mut auf die Zukunft. Dass die Darsteller Verbrecher sind, stellt der Film deutlich heraus: Alle Akteure werden mit eingeblendeten Taten und Haftzeiten in Großaufnahme vorgestellt.

Shakespeares Drama »Julius Cesar« von 1599 ist in diesem Film aktueller denn je. Den Tavianis gelingt es, die einzelnen Proben in den verschiedensten Räumen des Gefängnisses, von der privaten Zelle, über Gemeinschaftszellen, Gänge, Speiseräume und dem vergitterten Gefängnishof als Außenbereich, zu verdichten. Die Proben, die den größten Teil des Films einnehmen, werden allesamt in herrlichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen wiedergegeben. Anfangs- und Schlusssequenz, die jeweils den letzten Akt der eigentlichen Aufführung zeigen, sind in Farbe.

Überraschender Clou am gestrigen Abend: Der Darsteller des Brutus stand neben dem gesamten Film-Team vor dem Roten Vorhang und konnte den Applaus nach abgesessener Haftstrafe in Freiheit genießen. Auf der Pressekonferenz herrschte die Meinung vor, dass dies die wohl originellste Auseinandersetzung mit Shakespeare sei, die es bisher je im Kino gab. Die Kunst dient dem Leben und das Leben dient der Kunst.

Am Ende von Shakespeares Julius Cäsar werden die Darsteller mit stürmischem Applaus belohnt. Das Licht verlöscht, die Akteure verlassen die Bühne, kehren zurück in ihre Zellen: Es sind Häftlinge, die im Hochsicherheitstrakt der römischen Strafanstalt Rebibbia einsitzen. Einer von ihnen sagt: „Seit ich der Kunst begegnet bin, ist diese Zelle für mich ein Gefängnis geworden.“ Sechs Monate lang haben Paolo und Vittorio Taviani den Entstehungsprozess der Inszenierung beobachtet. Sie zeigen, wie Shakespeares universelle Sprache den Akteuren hilft, sich auf den Charakter ihrer Figuren einzulassen, wie sie ins Wechselspiel von Freundschaft und Betrug, Macht, Lüge und Gewalt eintauchen. Ohne im Detail zu ergründen, welche Verbrechen die Männer in ihrem „wahren“ Leben begangen haben, eröffnet der Film Parallelen zwischen dem klassischen Drama und der Welt von heute, beschreibt das Engagement aller Beteiligten – und wie deren Ängste und Hoffnungen in die Inszenierung einfließen. Als sich nach der Premiere die Zellentüren hinter Cäsar, Brutus und den anderen schließen, fühlen sie sich stolz und auf merkwürdige Weise berührt: Die Kunst hat ihnen einen Blick in die Tiefen der eigenen Biografie gestattet. [Quelle: Filmbeschreibung]

Seele schreibt man mit zwei ‘e’!

Von Friedhelm Denkeler,

Der russische Regisseur Aleksandr Sokurov hat den deutschesten aller Texte, Goethes »Faust«, neu verfilmt und gewann damit 2011 den Goldenen Löwen von Venedig

Gehen wir! / Wohin? / Immer vorwärts! / Was ist dort? / Keine Ahnung!

"Beelzebub", Foto © Friedhelm Denkeler 2009
»Beelzebub«, Foto © Friedhelm Denkeler 2009

»Seele schreibt man mit zwei e« so korrigiert, zumindest im Faust-Film von Aleksandr Sokurov, Faust (Johannes Zeiler) den Vertrag mit Mauritius/ Mephisto (Anton Adasinsky) über den Verkauf seiner Seele.

Sokurov geht mit Goethes Text sehr frei um, nur hin und wieder hört man das Original durch. Er hat den Goethe-Klassiker neu erfunden und dennoch versteht man ihn, auch ohne das Original wortwörtlich zu kennen.

Faust und Mephisto streunen durch biedermeierliche Dörfer, Städte und durch Landschaften, die so romantisch aussehen wie bei Caspar David Friedrich.

»Der Film erweckt den Eindruck, man habe es mit einem schweren, dunklerem, soeben erst aus seiner Starre erlöste, Gemälde zu tun. Seine Bilder sind so ausgewaschen, als stammten sie aus einer Zeit, da Film noch gar nicht möglich war – unerklärliches Teufelswerk, Filmrollen, die man im Schlamm gefunden und mühsam gereinigt hat. Sokurow manipuliert seine Welt mit verzerrenden, bewusst verunreinigten Linsen und Filtern, und er orientiert sich dabei an der Goetheschen Farbenlehre, der zufolge es der Dunkelheit bedarf, um die Farben hervorzubringen«, schreibt DIE ZEIT.

«Sokurows Faust ist allzu menschlich. Auf Erkenntnis pfeift er. Er will nur eines: Gretchen, ein engelsgleiches Objekt der Begierde. Sokurow setzt seine ganze Kunst ein: Stummfilmformat, Licht wie in einem Gemälde, die Bilder eigentümlich verzerrt. Er arbeitet mit speziellen biegsamen Linsen. Realismus ist seine Sache nicht. Sein Film ist eine Vision, ein groteskes Traumbild, mit grandiosen Aufnahmen, die einen großen Sog entfalten«, so der Kommentar auf 3sat.

Doch der Pakt wird von Faust nicht ernst genommen, denn er glaubt nicht an die menschliche Seele, jedenfalls hat er sie beim Sezieren einer Leiche in der Eingangsszene nicht gefunden. So hat Faust dem Teufel nichts zu verkaufen und schuldet ihm auch nichts. Im Gegenteil: Zum Schluss versucht er, ihn unter Gesteinsbrocken zu begraben, geht auf einen großen Gletscher zu und aus dem Off hört man Gretchens Stimme (Isolda Dychauk): »Wohin gehst du?« Und Faust ruft: «Dahin! Weiter! Immer weiter!«

Das Eingangszitat dieses Artikels ist übrigens das Ende von Sokurows wunderbarem Film »Russian Ark« aus dem Jahr 2002, in dem zwei Männer eine Reise durch 300 Jahre russische Geschichte unternehmen, gedreht in einer einzigen Kamera-Einstellung, in der für einen ganzen Tag gesperrten Eremitage mit 2000 Statisten. Für das Ende des Faust-Films erscheinen diese Worte noch passender. Die Kunst ist lang! Und kurz ist unser Leben. Trailer 1Trailer 2

Eine Schneeburg in Ost-Westfalen

Von Friedhelm Denkeler,

Sibirische Kälte in Deutschland im Jahrhundertwinter 1962/63

»Schneeburg«, Foto © Friedhelm Denkeler 1963
»Schneeburg«, Foto © Friedhelm Denkeler 1963

Nach den eisigen Kriegswintern 1939/40 und 1941/42 sowie dem »Hungerwinter« 1946/47 ging die kalte Jahreszeit 1962/63 nicht ohne Grund als »Jahrhundertwinter« in die Geschichtsbücher ein. Aufgrund des harten und langen Winters waren der Rhein und der Bodensee zugefroren. Das seltene Naturschauspiel des kompletten Zufrierens des Bodensees findet statistisch nur alle 70 Jahre statt. Auch Westfalen erhielt Unmengen an Schnee, den wir zum Bau einer Schneeburg nutzten. Nicht überliefert sind die Temperaturen im Inneren unserer Burg.

Sibirische Kälte in Deutschland

Von Friedhelm Denkeler,

Der strenge Winter 1962/1963 in Westfalen

»Winteridylle in Westfalen«, Foto © Friedhelm Denkeler 1963
»Winteridylle in Westfalen«, Foto © Friedhelm Denkeler 1963

Im Winter 1962/1963 überzog eine sibirische Kälte Deutschland. Als Jugendlicher habe ich in Westfalen diesen strengen Winter erlebt und scheinbar auch genossen, zumindest ergaben sich reizvolle Motive in dieser Zeit. Für den gesamten Winter registrierten die Meteorologen in Westfalen 26 »Eistage«, das sind Tage, an denen das Thermometer auch tagsüber unter dem Gefrierpunkt bleibt. Der Boden war ungewöhnlich tief gefroren und die Wasserleitung zu unserem Haus war zum Ende der Frostperiode eingefroren. Spätestens dann muss auch das Genießen zu Ende gewesen sein.

The Artist – Eine Liebeserklärung an das Stummfilmkino

Von Friedhelm Denkeler,

Für den Oscar-Anwärter ist Reden Silber und Schweigen Gold

 "Lene Meinert", Archiv © Friedhelm Denkeler 1927
»Lene Meinert«, Archiv © Friedhelm Denkeler 1927

Schweigen wäre Gold – so könnte man häufig angesichts der Umstellung des traditionellen Zelluloid auf digitalen Film sagen. Sieht man den aktuellen Film »The Artist« des Franzosen Michel Hazanavicius, den er in Hollywood realisiert hat, so ist Schweigen tatsächlich Gold.

Ein Film ohne Ton, ohne 3D- und Dolby Surround-Effekte, nur mit Musik und im alten 4:3 Format in Schwarzweiß gedreht, gibt die Anmutung der alten Stummfilme wieder. Erzählt wird von jener Zeit, in der ein Film noch weltweit verstanden wurde, weil er eine universale Sprache sprach.

Gleichzeitig ist er auch eine Geschichte aus der Zeit des Übergangs vom Stumm- auf den Tonfilm, der den empörten und mimisch verzweifelten Ausruf des Hauptdarstellers »Ich bin doch Künstler« zur Folge hat.

»George Valentin (Jean Dujardin) ist der Superstar des großen Hollywood-Kinos der 20er Jahre. Dem unvergleichlichen Charmeur und Draufgänger fliegen die Herzen des Publikums zu. Er genießt und zelebriert seinen Ruhm und entdeckt wie im Vorbeigehen das Talent der jungen Statistin Peppy Miller (Bérénice Bejo).

Doch mit dem Wendepunkt vom Stummfilm zum Tonfilm stehen die beiden Schauspieler plötzlich zwischen Ruhm und Untergang: Valentin will nicht wahr haben, dass der Tonfilm seine Karriere zu überrollen droht. Für Peppy Miller aber bedeutet die neue Technik den Durchbruch: Das Sternchen wird zum gefeierten Kinostar!« [aus der Filmbeschreibung].

Doch obsiegt nicht nur die Liebe, sondern auch die dialektische Synthese in Form des stepptanzschuhklackernden Musicals, dem genuinen Tonfilm-Genre, das zugleich die triumphale Rückkehr des Körpers als Spektakel eigenen Rechts in der Filmgeschichte markiert. [Der Spiegel].

Das Erstaunlichste ist, dass der eigentlich anachronistische Film zurzeit mit Auszeichnungen und Nominierungen überhäuft wird. Der Film erhielt allein zehn Nominierungen für den Oscar. Fazit: Ein sehenswerter Film in dem am Ende das Kino über seine eigene Historie siegt und mit einem Happy-End, das so nur im Film erfunden wird. Es ist zu wünschen, dass dieses Jahr Schweigen wirklich zu Gold wird. www.theartist-derfilm.de

Arno hat immer Recht

Von Friedhelm Denkeler,

»Ich finde Niemanden, der so häufig recht hätte, wie ich!, Arno Schmidt, Grafik © Friedhelm Denkeler 2004
»Ich finde Niemanden, der so häufig recht hätte, wie ich!, Arno Schmidt, Grafik © Friedhelm Denkeler 2004
Anmerkung zur Kategorie »«

In dieser Kategorie erscheint am ersten Tag eines Monat öfter ein bildlich umgesetzter Post mit einem Zitat. Das kann eine Photographie mit einem Spruch sein oder ein Bild, das grafisch mit dem Zitat des Monats gestaltet wurde.

Eine Übersicht über alle Artikel der Kategorie finden Sie unter »«.

Ich hab geträumt ich wär ein Hund der träumt!

Von Friedhelm Denkeler,

Bildgeschichten von Hans Hillmann und Jirí Šalamoun in der Kunstbibliothek am Berliner Kulturforum

»Die Beute« (Hund und Herrchen), Foto © Friedhelm Denkeler 1998
»Die Beute« (Hund und Herrchen), Foto © Friedhelm Denkeler 1998

Die Kunstbibliothek stellt noch bis zum 5. Februar 2012 die beiden Grafiker Hans Hillmann (Jg. 1925) und Jirí Šalamoun (Jg. 1935) vor. Beide arbeiten zwischen freier und angewandter Kunst, zwischen Comic und Karikatur, zwischen Zeichnung und Bild und zwischen Schriftform und Bildform. Die eher fotografisch anmutenden Arbeiten Hillmanns fand ich allerdings interessanter.

Hillmann wurde bekannt mit seinen Filmplakaten und Buchhüllen. Für die Zeitschrift twen illustrierte er Erzählungen. Beide Künstler erzählen ihre Geschichten in Autorenbüchern. Unter dem Titel Ich hab geträumt ich wär ein Hund der träumt ist 1970 das erste von Hillmann erschienen. Der Titel ist Programm und deutet auf das Thema der doppelten Verwandlung hin.

Hilllmanns Arbeiten mündeten in sein zeichnerisches Hauptwerk, der Illustration von Dashiell Hammetts Kriminalgeschichte Das Fliegenpapier. Seine sepiafarbenen Aquarelle kann man auch als Bewunderung für das Schwarz-Weiß-Kino der 1950er Jahre ansehen. Er hat nicht einfach die Filmbilder dargestellt, sondern eigene Szenen entwickelt, die einen neuen Film ergeben. Man denkt an Edward Hopper, der eine eigene malerische Wirklichkeit schuf und sich dabei vom Film und von der Fotografie anregen ließ. www.smb.museum , Hans Hillmann in der Google-Bildersuche

Ich bin Marina und ihr seid die Diamonds!

Von Friedhelm Denkeler,

Marina And The Diamonds: Drinking Champagne Made By The Angel

Drinking champagne made by the angel / Who goes by the name of Glitter and Gabriel / Drinking champagne made all the angels / Tears and pain but I feel celestial

»Engel« (Die Braut aus Papier), Foto © Friedhelm Denkeler 2010
»Engel mit türkisblauen Haaren«, aus dem Portfolio »Pentimenti«, Foto © Friedhelm Denkeler 2010

Bewusst habe ich sie letzte Woche in der Show von Michael Michalsky während der Fashion Week das erste Mal gehört – Marina And The Diamonds. Nein, nein, ich werde nicht unter die Mode-Blogger gehen, sondern sah Michalskys Show auf ARTE.

Unter dem Motto Lust schickte er seine Models im Tempodrom über den Laufsteg, unterbrochen von Tanzeinlagen der Damen des Friedrichstadt-Palastes und den Musik-Acts von Frida Gold (»Zeig mir wie du tanzt«) und eben Marina And The Diamonds, die mit Stimme und starker Bühnenpräsenz überzeugte. Michalsky scheint ein Händchen für kommende Stars zu haben, bereits vor Jahren ließ er Lady Gaga und Hurts in seinen Shows auftreten als sie hierzulande noch unbekannt waren.

Das 26-jährige Brit-Girl Marina Diamandis, wie sie bürgerlich heißt, bot die beiden Songs I Am Not A Robot und Hollywood aus ihrem Debütalbum The Family Jewels (2010) dar: Marina And The Diamonds: »I Am Not A Robot«.

Aus ihren Songs lässt sich eine gelungene Mischung aus Kate Bush, Madonna, Lady Gaga, Kim Wilde und Patti Smith heraushören. Die Marina im Song Hollywood mag zwar aus Polen stammen, aber im richtigen Leben ist Marina Diamandis eine griechisch-stämmige Waliserin. Ihre selbstgeschriebenen Texte erscheinen halbwegs anspruchsvoll zu sein. Im folgenden Video über die Verführbarkeit des Amerikanischen Traums habe ich daher eine Version mit deutschen Untertiteln herausgesucht: Marina And The Diamonds: »Hollywood«

Hollywood infected your brain / You wanted kissing in the rain / Living in a movie scene / Puking American dreams

Und Shampain erinnert natürlich an Abba: Marina And The Diamonds: Shampain.

Diese drei Titel sind in den letzten Tagen meine Lieblingssongs geworden. Mal sehen, ob die Begeisterung anhält und es bleibt das im Frühjahr erscheinende nächste Album abzuwarten.

Voodoo, Wah-Wah und Fuzz im Berliner Sportpalast

Von Friedhelm Denkeler,

Jimi Hendrix – Der beste Gitarrist aller Zeiten mit Voodoo Child

Well, I stand up next to a mountain / And I chop it down with the edge of my hand. / Well, I stand up next to a mountain, / Chop it down with the edge of my hand. / I’m a voodoo child, baby.

"Jimi Hendrix im Berliner Sportpalast", Foto © Friedhelm Denkeler 1969
»Jimi Hendrix im Berliner Sportpalast«, Foto © Friedhelm Denkeler 1969

Am 23. Januar 1969, vor 43 Jahren, sah ich im Sportpalast mein erstes Berliner Konzert, nachdem ich im Herbst 1968 in Berlin ankam – The Jimi Hendrix Experience. Gleich nach der Vorgruppe startete James Marshall ›Jimi‹ Hendrix mit Hey Joe, und der Saal brodelte.

Weiter ging es mit Purple Haze, Foxy Lady, The Wind Cries Mary, All Along the Watchtower und Sunshine Of Your Love, und süßliche Rauchschwaden zogen durch die Halle. Herausgesucht habe ich den folgenden Song wegen seiner beispielhaften Wah-Wah- und Fuzz-Effekte:The Jimi Hendrix Experience: »Voodoo Child (Slight Return)«

»Hendrix baute ein einleitendes Gitarrenriff ein, das einfach alles in sich vereinte, was ihn zum unbestrittenen Champion des Gitarren-Schwergewichts machte – schiere Wah-Wah-Pedal-Herrlichkeit, die sich in seinem umwerfend genialen E-Gitarrenspiel entlud. Well I stand up next to a mountain, begann er, und ließ keinen Zweifel daran, dass er ebenso gigantisch war wie dieser Berg, wie die Natur selbst, bereit, mit seiner Axt alles niederzumähen.« [Matthew Oshinsky]

"Jimi Hendrix im Berliner Sportpalast – Plakat", Foto © Friedhelm Denkeler 2011
»Jimi Hendrix im Berliner Sportpalast – Plakat«, Foto © Friedhelm Denkeler 2011

Damals lösten die total übersteuerten E-Gitarren von Hendrix (und später von anderen Bands) Verstörungen bei vielen Zeitgenossen aus. Diese Verfremdungseffekte wurden mit einem elektrischen Wah-Wah-Pedal mit dem Fuß erzeugt; beide Hände konnten somit an der Gitarre verbleiben (typisches Beispiel: Jimi Hendrix: Voodoo Child).

Eine weitere Verfremdung des Gitarrensignals wurde mit dem Fuzz-Effect (typisches Beispiel: Iron Butterfly: In A Gadda Da Vida) erreicht. Das Rolling Stone Magazin kürte Hendrix zum besten Gitarristen aller Zeiten.

Ein halbes Jahr später, im August 1969, wagte sich Hendrix im Festival von Woodstock an die amerikanische Nationalhymne. Das Star Spangled Banner verfremdete er durch die Einsatz des Wah-Wah-Effektes und der Untermalung von Maschinen-Gewehr-Salven.

Die Botschaft war zur Zeit des Vietnam-Krieges deutlich. Das zeigte sich später auch an Machine Gun aus seinem Album Band of Gypsys.

Ein Jahr später, am 4. September 1970 gab Jimi Hendrix noch einmal ein Konzert in der Deutschlandhalle. Von Berlin fuhr er direkt nach Fehmarn zu seinem letzten Auftritt. Am 18. September 1970 starb er mit 27 Jahren in London in seinem Hotel. Die Ära des Superstars währte nur gut drei Jahre. In dieser Zeit entstanden die legendären Alben Are You Experienced (1967), Axis: Bold AS Love (1967), Electric Ladyland (Doppel-LP, 1968) und Band of Gypsys (1970).

Wie die Berliner so sind …

Von Friedhelm Denkeler,

Die 1920er-Jahre – Fotos von Friedrich Seidenstücker und
Chansons von Evelin Förster in der Berlinischen Galerie

"Kirschenverteilung", Foto © Friedhelm Denkeler 2011
»Kirschenverteilung«, Foto © Friedhelm Denkeler 2011

Die Friedrich Seidenstücker-Ausstellung wollte ich gerne ein zweites Mal sehen – so bot sich der letzte Freitag an. An diesem Abend ›spazierte‹ die Sängerin Evelin Förster mit ihren Chansons der 1920er- und 1930er-Jahre unter dem Titel Zwischen Ku’damm und Krögel oder wie die Berliner so sind durch die Ausstellung Von Nilpferden und anderen Menschen 1925 – 1958.

Entsprechend den fünf Kapiteln der Ausstellung Straßenfotografie, Akt, Landschaft, Berlin nach 1945 und Zoofotografie präsentierte Evelin Förster Texte und Chansons passend zu den typischen Seidenstücker-Fotografien im Foyer der Berlinischen Galerie. Die naturgemäß kleinen Original-Fotos wurden dabei stets passend als Dias dem Auditorium vorgestellt.

Der Spaziergang begann mit dem Foto Feuerwehreinsatz am Potsdamer Platz und einem Text aus der Berliner Illustrierten Zeitung von 1926 mit dem Titel Auflauf und dem Lied Tempo, Tempo und endete mit Aphorismen, Texten von Erich Mühsam und Frank Wedeking und dem Song Benjamin, ich hab nichts anzuziehen, währenddessen der Akt aus dem Jahr 1941 von Seidenstücker zu sehen war.

Seidenstückers Aufnahmen entsprechen, anders als die Fotos seiner Zeitgenossen Umbo oder László Moholy-Nagy, eher dem Geist der Amateurfotografie als der damaligen Neuen Sachlichkeit. Er feilt weniger an seinen Kompositionen, sondern besitzt das Gespür für den richtigen Moment. In seiner produktivsten Zeit, zwischen 1920 und 1930, entstanden auch die berühmten „Pfützenspringerinnen“. Den Sinn für Witz und leicht Anzügliches teilt er mit dem anderen großen Berlinfotografen Heinrich Zille.

Friedrich Seitenstücker war ein fotografierender Spaziergänger. Von Frühling bis Herbst war er auf den Straßen Berlins unterwegs. Er reagierte spontan auf das, was ihm begegnete und gefiel: schöne Frauen, spielende Kinder, Straßenhändler und Arbeiter, Paare am Wannseestrand. Daneben gibt es aber auch Bilder von Arbeitslosenspeisungen und Bettlern, Streikposten vor der AEG und politischen Kundgebungen. Ihm ging es also durchaus um eine komplexe Stadtbeschreibung. [aus dem Ausstellungstext]

Übrigens: Der Krögel stand bis 1935 als Sinnbild für die mittelalterlich enge Stadtbebauung, für die vielfach menschenunwürdigen und unhygienischen Wohnverhältnisse in Berlins Mitte.

Wie Walter Ulbricht beim Frühstück die Mauer aus Würfelzucker plante

Von Friedhelm Denkeler,

Michael Bully Herbig und Jürgen Vogel in Leander Haußmanns Tragik-Komödie »Hotel Lux«

"Roter Stern in Radevormwald", Foto © Friedhelm Denkeler 1984
»Roter Stern in Radevormwald«, Foto © Friedhelm Denkeler 1984

Diese Szene des Films wird immer in Erinnerung bleiben – Walter Ulbricht sitzt mit Lotte Kühn beim Frühstück im Hotel Lux in Moskau und stapelt Würfelzucker zu einer Mauer, darauf Lotte »Was machst du denn da?«, »Nichts! Nur so!«.

Der Komiker und Parodist Hans Zeisig (Michael Bully Herbig) tritt 1938 im Nazi-Berlin in einer satirischen Tanzrevue gemeinsam mit Siggi Meyer (Jürgen Vogel) als Stalin und Hitler auf und macht genau einen Hitler-Gag zuviel.

Er muss mit gefälschten Papieren fliehen. Sein eigentliches Ziel ist Hollywood, da er jedoch einen russischen Pass erhielt, landet er in Moskau im Hotel Lux. Hier erging es ihm, wie heute den meisten Deutschen, er wusste nichts über das Hotel, das ein Hotel voller Kommunisten, ein Gästehaus der Kommunistischen Internationalen war.

Kommunisten, die vor den Faschisten geflohen waren, versuchten hier zu überleben, kamen aber vom Regen in die Traufe. Sie wurden bespitzelt, verhört, nach Sibirien verschleppt oder erschossen.

Im diesem Hotel trafen sich alle. Politiker, Schriftsteller, Künstler und auch im Film tummeln sich Exilanten wie Walter Ulbricht, Georgi Dimitroff, Johannes R. Becher, Herbert Wehner oder Wilhelm Pieck.

Der russische Geheimdienst unter dem NKWD-Chef Jeschow verwechselt Zeisig mit Hitlers Leibastrologen Hansen. Kurz und gut, Zeisig und der aus dem Untergrund wieder aufgetauchte Meyer, fliehen, nun als Stalin und Hitler verkleidet, gemeinsam mit der Frau, die zwischen beiden steht, Frida van Oorten (Thekla Reuten).

Ein sehenswerter Kinospaß, der zur absurden Geschichtsstunde wird. Gekonnt werden die Rollen gewechselt, die Regieeinfälle purzeln nur so, das Zeitkolorit ist authentisch und den Zuschauern hat es gefallen. Spätestens jetzt ist ihnen das Hotel Lux ein Begriff. www.hotel-lux-film.de

Von der Blauen Stunde mit den Mohnblüten, über das Tango tanzen in der Neonzone bis zu den Eintrittskarten in die Nacht

Von Friedhelm Denkeler,

»Ungleich Nacht – Fotografien der Gruppe 97« in der Galerie im Saalbau

»Strandbar unter Palmen bei Nacht«, Foto © Friedhelm Denkeler 2010
»Strandbar unter Palmen bei Nacht«, Foto © Friedhelm Denkeler 2010

So stelle ich mir eine gute Gruppenausstellung vor: Sechs Fotografen zeigen ihre eigenständigen Portfolios mit einer gemeinsamen Blickrichtung, der Nacht. Und so passt der Titel Ungleich Nacht perfekt zu der sehenswerten Schau im Saalbau in der Neuköllner Karl-Marx-Straße.

Wenn dann die Bilder in den vier Räumen der Galerie auch vorzüglich gehängt und aufeinander abgestimmt sind, kann man nur noch die Empfehlung unbedingt ansehen aussprechen.

Auch von den Gästen der gutbesuchten Vernissage am letzten Freitag, auf der Barbara Maria Zollner die Arbeiten vorstellte, hörte ich nur Lobenswertes. Nun zu den Arbeiten:

Nachtleben, Ursula Kelm: Die Stunde zwischen Tag und Traum, Zeit des Übergangs, Dämmerung, l’heure bleue, die blaue Stunde ist ein romantisches Thema, das Ursula Kelm in ihrer aus Unikaten bestehenden Arbeit vorstellt. Neben SX-Polaroid-Fotos sind insbesondere die sogenannten Transferbilder zu erwähnen, auf denen Kelm die Polaroids vom Trägerbild gelöst und auf Seidenpapier aufgebracht hat. Diese Technik unterstreicht das Piktorialistische in ihren Fotografien und alltägliche Stadtansichten werden so zu traumhaften Inszenierungen.

Was ist, wenn ich’s nicht sehe, Susanne Czichowski: Die Mohnblüte und andere alltägliche Gewächse leuchten wie phosphoreszierend aus dem Dunkel, ätherische Erscheinungen vorm brandenburgischem Wochenendhaus der Künstlerin. Im Schein einer Taschenlampe aus der Hand fotografiert, enthüllen die Dinge – Gräser, der Fruchtstand einer Pflanze, Blätter im Wasser, eine Schnecke – ihre Beschaffenheit und ihr Eigenleben: Perlen von Saft, zarte Härchen auf sprödem Stiel, hauchfeine Panzerglieder – bizarr und kostbar.

Milonga veneziana, Frank-Rüdiger Berger: Mit Einbruch der Nacht treffen sich in Venedig auf der kleinen Piazza in San Polo die Bewohner, um Tango zu tanzen. Die Feuchtigkeit, die das Licht zerfließen lässt, verstärkt noch die eigenartige Wirkung von Frank-Rüdiger Bergers Tanzfotografien, die flüchtige Bewegungen in verwischten Figuren verewigt – Bewegungspuren aus Licht und Schatten in nächtlichem Laternenschein.

Zweierlei“, Barbara Oehler: Die Bilder der Serie Zweierlei sind Bilder von besonderer Nähe. Ihre Freundinnen, die Barbara Oehler hier fotografiert hat, tragen Masken – doch die Gesichtspflege-Masken überdecken nicht, sondern unterstreichen den persönlichen Ausdruck der Portraitierten, deren Blick zugleich in die Ferne wie nach innen gerichtet scheint, versonnen, wie unbeobachtet, aber bewusst – ein Paradox ebenso wie die Masken selbst.

Neonzone, Sylvia Forsten: Nächtliche Szenen, die Sylvia Forsten im Senegal und im Berliner Kiez mit dem vorhandenen Neonlicht aufgenommen hat „gleichen sich unterm Rotlicht, blauem Flimmern oder grünem Leuchten, bis mit Tagesanbruch der Glanz verblasst. Die Euphorie weicht der Tristesse, die Wirklichkeit wird fahl und grau. Manchmal kommt die Ernüchterung schon früher, in Kneipen vorm Morgengrauen trinken die Enttäuschten dagegen an“.

Eintrittskarten in die Nacht, Angela Kröll: Sammler heben gerne Eintrittskarten auf. Angela Kröll hat dies über 20 Jahre lang getan. Und wenn man dann auch noch gleichzeitig fotografiert und beides in Collagen in Originalgröße komponiert, entstehen neue Bilder. Jede dieser Eintrittskarten lohnt die genaue Betrachtung, denn sie erzählen eine kleine Geschichte, in die des Betrachters eigene Nachterlebnisse und -phantasien einfließen.

›Bei Nacht sind alle…‹ Bilder anders. Die Nacht zeigt nicht nur die andere Seite von Menschen, Landschaften und Gegenständen, sondern verstärkt sie – wo Licht ins Dunkel fällt – auch in ihrer Besonderheit. Dieser Nachtseite sind die sechs Berliner Fotografen der Gruppe 97, die seit 1997 existiert, in ganz unterschiedlicher Weise und mit verschiedenen fotografischen Techniken auf die Spur gegangen.

Alle Zitate sind von Barbara Maria Zollner, die mir dankenswerter Weise das Skript ihrer Eröffnungsrede zur Verfügung stellte. Schauen Sie sich selbst die vielfältigen Gesichter der Nacht noch bis zum 12. Februar 2012 in der Galerie im Saalbau in Neukölln an und gehen Sie am besten bei einbrechender Dunkelheit dorthin. Gruppe 97, Ursula Kelm, Barbara Maria Zollner