Der Kirschgarten als Sehnsuchtsort der Jugend …

Von Friedhelm Denkeler,

… oder als Metapher für unsere Zeit, in der ganze Staaten über ihre Verhältnisse leben?

Ohne den Kirschgarten würde ich mein eigenes Leben nicht mehr verstehen
[Die Ranjewskaja im Kirschgarten]

Der Sommer ist vorbei, die Kirschen sind abgeerntet, aber letzte Woche am Berliner-Ensemble im Theater am Schiffbauerdamm blühte beides als Tragikomödie noch einmal auf dem Gut der Ranewskaja auf: »Der Kirschgarten« von Anton Tschechow mit Cornelia Froboess und Jürgen Holtz, in der Fassung von Thomas Brasch und unter der Regie von Thomas Langhoff. Der Kirschgarten wirft keine Ernte mehr ab, er steht nur noch für das Schöne, das am Ende abgeholzt wird.

»Im Kirschgarten«, Foto © Friedhelm Denkeler 2008
»Im Kirschgarten«, Foto © Friedhelm Denkeler 2008

Das Stück spielt um 1900 auf einem russischen Landgut mit einem schönen alten Kirschgarten. Anja, die Tochter der Gutsbesitzerin Ranjewskaja, holt ihre Mutter aus Paris zurück, weil das Anwesen hoch verschuldet ist und versteigert werden muss. Rettung kommt vom Kaufmann Lopachin, dem ehemaligen Leibeigenen der Familie. Er will allerdings den Kirschgarten abholzen lassen und Datschen darauf bauen, die er an Sommergäste vermieten will. Die Ranjewskaja (Cornelia Froboess) glaubt an die Verschonung ihres voller Kindheitserinnerungen steckenden Kirschgartens und hofft, mit dem Kirschgarten nach ihren Pariser Jahren dort wieder eine Heimat zu finden.

Lion Feuchtwanger schrieb über das Stück: »Aber dieses handlungsarme Stück ist das Reichste und Reifste, Süßeste und Bitterste, Weiseste, was Tschechow je geschrieben. Diese Tragikomödie ist ganz einsam, es geht ein Lächeln durch sie, mild, sehnsüchtig und dennoch voll Hohn.« Von alledem ist leider in Thomas Langhoffs Inszenierung wenig zu spüren. Dazu trägt auch das karge Bühnenbild bei: Neon-Ringleuchten an der Decke und seitliche, von innen beleuchtete, bewegliche Bühnenbegrenzung und schäbige Sitzmöbel passen nicht zum Gutshaus. Der blühende Kirschgarten ist nur auf meinem Foto zu sehen.

Das Drama passt in unsere Zeit, in der ganze Staaten über ihre Verhältnisse leben und in den Bankrott rutschen. Nicht umsonst wird es zurzeit auf zahlreichen Bühnen gespielt. Das Geld ist weg, die Staaten sind hoch verschuldet, aber man will davon nichts wahrhaben. Für den Diener Firs ist die »neue Freiheit ein Unglück«; gut, das könnte ein Hinweis auf die Wiedervereinigung sein, aber eigentlich sind diese Aspekte für Langhoff nicht von Interesse. Als Zuschauer musste man sich diese Andeutungen selbst zusammendenken.

Liegt es an der Bearbeitung des Stückes durch Thomas Brasch, an Langhoffs Inszenierung oder an den Schauspielern, dass das Stück seltsam blutleer in Erinnerung bleibt und uns die Figuren nicht allzu nahe gingen? Warum man zum Beispiel Cornelia Froboess für die Hauptrolle verpflichtet hat, hat sich mir nicht erschlossen: Sie füllt die zentrale Figur der Gutsbesitzerin nur unvollkommen aus. Wer einmal die Inszenierung von Peter Stein an der Berliner Schaubühne gesehen hat, wird ohnehin alle weiteren Inszenierungen daran messen und sie alle werden es schwer haben.

Zwei Schauspieler kann man aber herausstellen: Jürgen Holtz, der den stummen Diener Firs verkörpert und Robert Gallinowski in seiner Rolle als Unternehmer Lopachin. Nach dem Aufbruch der ehemaligen Gutsbewohner bleibt der greise Diener Firs allein und vergessen im Haus zurück und Lopachin ist nicht nur der gefühllose Geschäftemacher, sondern traurig über die Tragik des Lebens, die den einen nach oben zieht, den anderen zu Boden wirft. Den gesamten Text des Drames finden Sie übrigens im »Projekt Gutenberg«.

Vom Businessmann, über eine Bettlerin zum Akkordeonspieler

Von Friedhelm Denkeler,

Rätselhaft, surreal, fantastisch – Der neue Film von Leos Carax: »Holy Motors« lässt an Wim Wenders und Eugène Atget denken

Celine, wir müssen unbedingt noch lachen vor Mitternacht. – Wir werden es versuchen, Monsieur Oscar. – Wer kann schon sagen, ob wir mal im Jenseits lachen? [Filmzitat]

Auf meinem Foto fährt eine schwarze Stretch-Limousine über den Pariser Platz in Berlin; in Leos Carax aktuellem Film »Holy Motors« ist es eine weiße Stretch-Limousine, die einen ganzen Tag lang kreuz und quer durch Paris fährt. Carax, der mit seinem wunderbaren Drama »Die Liebenden von Pont-Neuf« 1991 für Furore sorgte, hat einen eher kleinen Film gedreht, mit dem er all die Realität liebenden Zuschauer alleine lässt. Für die Anderen aber schafft er eine rätselhafte, noch lange nachwirkende Verzauberung. Ein Film, der anstatt mit Worten fast nur mit Bildern kommuniziert – jeder muss sich selber einen Reim darauf machen.

»Strechlimousine vor dem Brandenburger Tor«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Strechlimousine vor dem Brandenburger Tor«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Denis Lavant schlüpft in »Holy Motors« als Monsieur Oscar in elf mysteriöse, surreale Rollen, in denen er jeweils einen „Auftrag“ erledigen muss: Seine erste Rolle, ist die eines Bankiers, der morgens auf dem Weg zur Arbeit seine Kinder verabschiedet. Dann steigt er in die Limousine und seine Chauffeurin Celine (Edith Scob) hat in einer Mappe bereits seinen nächsten Auftrag vorbereitet: Er muss eine blinde Bettlerin auf der Pont-Neuf spielen. Zu spielen wäre aber zu einfach gesagt, Oscar ist jeweils die ihm zugeteilte Rolle. Irgendwann einmal erinnert der Film auch an Wim Wenders‘ „Der Himmel über Berlin“.

Zwischen seinen verschiedenen Identitäten nutzt Oscar die fahrende Limousine, die mit Masken, Perücken und Schminktischen ausgestattet ist, als Arbeitsplatz, um sich auf kommende Rollen vorzubereiten. Er macht genau das, was Schauspieler, seit es sie gibt, machen: Das Leben imitieren.

In der verrücktesten Szene tobt Oscar als haariges Schreckgespenst über den berühmten Pariser Friedhof Père-Lachaise: Er reißt Blumen von den Gräbern, auf denen „Visit my website“ steht, beobachtet ein Mode-Shooting und entführt das Model (Eva Mendes) in die Unterwelt, in die Kanalisation.

Alle Szenen Oscars will ich hier nicht verraten, aber die zwei schönsten möchte ich noch erwähnen: Da ist zum einen die Szene in der Oscar einen Akkordeonspieler darstellt. Er zieht durch das alte Paris und immer mehr Akkordeonspieler gesellen sich dazu. Unwillkürlich erinnern mich die Häuser und Plätze an „Das alte Paris“ von Eugène Atget.

Ähnliche Gefühle stellen sich ein, wenn Denis Lavant, gemeinsam mit seiner ehemaligen Geliebten (Kylie Minogue) durch das alte, leergeräumte Kaufhaus Samritaine wandert und Kylie ihm das zu Tränen rührende, tröstende Lied „Who Were We?“ singt. Welcher Film kann in diesem Jahr mit der puren Lust am Erzählen „Holy Motors“ das Wasser reichen?

Auch Michel Piccoli hat als Mann mit dem Muttermal einen Gastauftritt: Er scheint der Vertreter jener geheimnisvollen Organisation zu sein, die die „Aufträge“ vergibt und er sorgt sich um die Gesundheit von Oscar. In der Schlussszene fahren nach getanerer Arbeit, pünktlich um Mitternacht alle Stretch-Limousinen der Stadt in eine gemeinsame Garage, über der die Leuchtschrift „Holy Motors“ flackert und tatsächlich: die Limousinen palavern per Blinkzeichen miteinander – und sie beten. Amen.

Der Film ist eine Hommage an die Filmkunst auf höchstem Niveau, ein Verweis auf den Reichtum der Filmgeschichte. Eine letzte Episode: Als Oscar in der Rolle eines Vaters seine halbwüchsige Tochter von einer Party abholt, erzählt sie ihm nicht die Wahrheit; er wird sie bestrafen müssen. Und diese Strafe scheint auch das Motto des ganzen Films zu sein:

Die Strafe besteht darin, Du selbst zu sein und damit leben zu müssen. [Filmzitat]

Film-TrailerFilm-WebsiteSoundtrack,

Die total verrückte Umzugskiste des Paul McCarthy

Von Friedhelm Denkeler,

In »The Box« wird die Schwerkraft in der Neuen Nationalgalerie Berlin auf den Kopf gestellt

Die Neue Nationalgalerie präsentiert sich in der oberen Halle in unerwarteter Leere: Neben den festen Holzeinbauten, die zum Untergeschoss führen, steht in der gläsernen Halle nur eine riesengroße Holzkiste. Erst wenn man um die Kiste herum geht, kann man durch ein „Fenster“ den Inhalt der Box sehen: Er besteht aus dem realen kompletten Arbeitszimmer von Paul McCarthy, so wie er es 1999 ausgeräumt hat.

"Paul McCarthys 'The Box' in der Neuen Nationalgalerie", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Paul McCarthys The Box in der Neuen Nationalgalerie«, Berlin, Kulturforum, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Der Transportbehälter wurde allerdings nicht „normal“ aufgestellt, sondern, nachdem McCarthy alle Gegenstände und das Interieur seines Ateliers auf dem „Boden“ des Containers fest verschraubt hatte, um 90 Grad gekippt aufgestellt. So „hängen“ jetzt alle, ursprünglich auf dem Boden stehenden, Gegenstände an einer Wand des Behälters, die Deckenlampen an der gegenüberliegenden Wand und die Fenster, durch die man nun einen Blick auf die Stahlträger der Nationalgalerie werfen kann, befinden sich an der Decke des Containers.

Paul McCarthy hat den gesamten Inhalt seines Ateliers – Tische, Geräte, Werkzeuge, Videoschnittpulte, Kisten, Bücher, Fotos, Bilder, Bleistifte – fotografiert und etikettiert. Nahezu dreitausend Gegenstände aus drei Jahrzehnten künstlerischen Schaffens kamen zusammen und wurden in denselben Maßen wieder neu zusammengebaut.

"Blick in Paul McCarthys 'The Box' in der Neuen Nationalgalerie", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Blick in Paul McCarthys The Box«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Der Blick ins Innere der Box irritiert. Die jetzt seitlich angebrachten Neon-Deckenlampen könnte man für eine Lichtskulptur von Dan Flavin halten und der Lüftungsschacht der ehemaligen Atelierdecke wirkt an der Wand wie eine minimalistische Skulptur. Die Atelierausstattung an der anderen Wand hingegen erscheint wie ein dreidimensionales Raumbild.

Atelierdarstellungen hat es in der Kunstgeschichte schon mehrfach gegeben: Dürer, Menzel und Courbet haben dies getan und nun reiht sich auch der 1945 in Salt Lake City geborene McCarthy ein. „The Box“ ist nach zehn Jahren zum ersten Mal wieder zu sehen, solange ruhte sie in den Archiven der Neuen Nationalgalerie. Der Sammlung nach gehört sie zu den Dauerleihgaben der „Friedrich Christian Flick Collection im Hamburger Bahnhof“. Die Ausstellung ist noch bis zum 4. November 2012 im Kulturforum am Potsdamer Platz zu sehen.

Meine Lieblingsfarbe

Von Friedhelm Denkeler,

»Bunt ist meine Lieblingsfarbe«, Walter Gropius, gefunden in Espelkamp/Ost-Westfalen, Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Bunt ist meine Lieblingsfarbe«, Walter Gropius, gefunden in Espelkamp/Ost-Westfalen, Foto © Friedhelm Denkeler 2012
Anmerkung zur Kategorie »«

In dieser Kategorie erscheint am ersten Tag eines Monat öfter ein bildlich umgesetzter Post mit einem Zitat. Das kann eine Photographie mit einem Spruch sein oder ein Bild, das grafisch mit dem Zitat des Monats gestaltet wurde.

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Die Lomo-Kamera als Revolverheld unter den Kameras: Ein Schuss – vier Bilder

Von Friedhelm Denkeler,

An die 500 Gäste besuchen inzwischen jeden Tag das JOURNAL

Das »JOURNAL – Berichte aus Berlin zu Photographie und Kunst« ist zwar vollständig werbefrei – und das bleibt auch so – aber etwas Werbung in eigener Sache ist heute sicherlich erlaubt: Hinweisen möchte ich gerne noch einmal auf das zuletzt auf meiner Website LICHTBILDER veröffentlichte Portfolio Quadrotura – Lomographien. Ausführlich habe ich diese Serie bereits hier vorgestellt. Die Fotos wurden alle mit dem »Lomography Action Sampler« gemacht.

Aus dem Portfolio »Quadrotura – Lomographien«, Foto © Friedhelm Denkeler 2004
Aus dem Portfolio »Quadrotura – Lomographien«, Foto © Friedhelm Denkeler 2004

In den letzten zwölf Monaten besuchten insgesamt 119.001 Gäste meinen Blog, das sind im Mittel 326 Besucher pro Tag. Die Zahlen entwickelten sich in diesem Zeitraum von ca. 250 auf jetzt aktuell an die 500 Besucher pro Tag. Das JOURNAL startete am 1. Juli 2010 mit dem Zitat des Monats Qualität ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Qualität; die steigenden Besucherzahlen deuten darauf hin, dass dies auch meine Gäste schätzen und ich möchte mich heute einmal herzlich für Ihr Interesse bedanken.

"Besucher auf www.journal.denkeler-foto.de vom 27.08.2011 bis 26.08.2012", Grafik © F. Denkeler 2012
»Besucher auf www.journal.denkeler-foto.de vom 27.08.2011 bis 26.08.2012«, Grafik © Friedhelm Denkeler 2012

Der Deutsche Wald tanzt im Museum auf dem Kopf

Von Friedhelm Denkeler,

Michael Sailstorfer in der Berlinischen Galerie bis 08.10.2012 (Preisträger Vattenfall Contemporary 2012)

Michael Sailstorfer "Forst", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
Michael Sailstorfer »Forst«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Ja, ist denn heut‘ schon Weihnachten, könnte man sich angesichts der Ausstellung Forst des diesjährigen Vattenfall Contemporary-Preisträgers fragen: Die fünf Tannen und Birken kreisen, kopfüberhängend, durch die zehn Meter hohe Eingangshalle der Berlinischen Galerie. Sailstorfer versteht sich als Bildhauer, der klassische Begriff der Skulptur wird von ihm aber deutlich zu einer Raumintervention erweitert.

Da die Bäume auf dem Boden und an den Wänden schleifen, hinterlassen sie ihre Spuren und verlieren Laub und Äste. Die Eingangshalle ist mit einer massiven Stahlträger-Konstruktion ausgestattet worden und die Bäume werden mit großen Elektromotoren in Bewegung gesetzt. Manchmal wirkt es komisch, wenn die Bäume sich ineinander verhaken und nach lauten Geräuschen wieder frei drehen.

In einer weiteren Arbeit Schwarzwald hat Sailstorfer in einem Waldstück seiner Heimat den Waldboden schwarz gestrichen. Der Wald wuchert im Laufe der Zeit das schwarze Quadrat wieder zu. Das Natürliche wird zum Künstlichen und am Ende wird die Kunst wieder zur Natur. Das Ganze kann man sich in der Ausstellung per Live-Stream auf einem Monitor (natürlich im schwarzen Quadrat), der per Internet direkt mit dem Waldstück verbunden ist, ansehen. Video, www.berlinischegalerie.de

Thermalsprudel in Bad Salzuflen

Von Friedhelm Denkeler,

»Thermalsprudel in Bad Salzuflen«, aus dem Portfolio »Sonntagsbilder«, Foto © Friedhelm Denkeler 2003.
»Thermalsprudel in Bad Salzuflen«, aus dem Portfolio »Sonntagsbilder«, Foto © Friedhelm Denkeler 2003

Anmerkungen zum Portfolio/ zur Kategorie »Sonntagsbilder»

Der Versuch einer Definition: Was ist eigentlich ein Sonntagsbild? Ein ›schönes‹ Bild (was auch immer das nun wieder heißen mag; es ist in Farbe; es passt in keine andere Kategorie; es gehört nicht zu einer Serie von Bildern, es ist ein Einzelbild. Aber es ist kein Sonntagsbild im Sinne der Sonntagsmalerei.

Am 26. Februar 2012 erschien in meinem Blog das erste Sonntagsbild. Und jeden Sonntag gab es ein neues – Ausnahmen bestätigten die Regel. Die Sonntagsbilder stammen aus dem Portfolio »Sonntagsbilder«, das ich 2005 abgeschlossen habe. Aber der Titel Sonntagsbild ist einfach ein zu schöner Titel. Unter dieser Prämisse führe ich die Kategorie »Sonntagsbilder« in meinem Blog bis auf weiteres mit Fotos aus meinem Archiv und mit neuen Aufnahmen weiter.

San Francisco im Summer Of Love 1967

Von Friedhelm Denkeler,

Scott McKenzie und das »Monterey Pop Festival« in Kalifornien

If you’re going to San Francisco/ Be sure to wear some flowers in your hair …
For those who come to San Francisco/ Summertime will be a love-in there …
There’s a whole generation with a new explanation/ People in motion.

»Flower-Power-Rebell«, 1967, Friedhelm Vienops pop-bemalter ›Eduard‹, Foto © Friedhelm Denkeler 1967
»Flower-Power-Rebell«, 1967, Friedhelm Vienops pop-bemalter ›Eduard‹, Foto © Friedhelm Denkeler 1967

Anfang des Jahres 1967 fand im Golden Gate Park in San Francisco ein großes Happening mit über 20.000 Hippies statt. Mit diesem Human-Be-In begann der Summer of Love mit dem die Hippiebewegung in den USA ihre Blütezeit erlebte. Der Song von McKenzie hat den damaligen Zeitgeist wohl voll getroffen, das beweisen über fünf Millionen verkaufte Singles weltweit; in Deutschland selbst war er neun Wochen auf Platz 1. Es blieb McKenzies einziger Hit, aber er setzte der Blumenkinder-Epoche ein Denkmal als Jahrhundertsong: Scott McKenzie: »San Francisco (Be Sure to Wear Flowers in Your Hair)«

Mit der Verszeile For those who come to San Francisco, Summertime will be a love-in there wollte John Phillips sicher auch auf das von ihm geplante Pop-Festival in Monterey, Kalifornien hinweisen. Das drei Tage dauernde Monterey International Pop Festival im Juni 1967 war das erste in der Reihe der großen Rock-Festivals und wurde zu einem der wichtigsten Konzerte der Rock-Geschichte. D. A. Pennebaker hat es in seinem Film Monterey Pop (1968) verewigt und Eric Burdon hat das Konzert später in seinem Song Monterey, in dem er einige der teilnehmenden Bands erwähnt, besungen.

Woodstock ist zwar das bekanntere Rockfestival, aber Monterey gilt als musikalischer Auftakt zur Hippie-Bewegung; hier war die Rock-Familie noch im Entstehen und agierte noch ursprünglicher. Eine Auswahl der teilnehmenden Bands: Jimi Hendrix, Janis Joplin, Otis Redding, The Who, Blood, Sweat & Tears, The Butterfield Blues Band, Canned Heat, Eric Burdon and the Animals, Jefferson Airplane, Simon and Garfunkel, Country Joe and the Fish, Grateful Dead, Johnny Rivers, The Byrds und Ravi Shankar. Scott McKenzie trat am Sonntag, den 18. Juni 1967 als Zweitletzter auf (siehe Konzert-Mitschnitt), noch vor den Mamas & Papas, die natürlich California Dreamin sangen. Am 18. August 2012 starb Scott McKenzie nach einer schweren Krankheit mit 73 Jahren in Los Angeles. www.scottmckenzie.info

Freie Wahl des Fluggebietes für Schmetterlinge

Von Friedhelm Denkeler,

Impressionen von der dOCUMENTA 13 in Kassel (Nachtrag). Von Kristina Buchs Schmetterlingsgarten bleiben nach der Documenta nur Puppenhülsen übrig

Die Düsseldorferin, Biologin und jetzt Kunst studierende Kristina Buch hat als jüngste Teilnehmerin (29 Jahre) der diesjährigen Documenta auf dem Friedrichsplatz vor dem Staatstheater in Kassel den Schmetterlingsgarten The Lover errichtet (siehe auch Ein Schmetterlingsgarten ohne Schmetterlinge und eine Welle ohne Welle). Damit die heimischen Schmetterlinge ideale Lebensbedingungen finden, hat sie den Garten mit 180 verschiedenen, faltergerechten Futterpflanzen bestückt. Während der 100 Tage der Documenta wird sie an die 3000 Schmetterlinge in diesem Garten aussetzen.

Buch lässt die Falter in ihrer extra für die Documenta angemieteten Wohnung schlüpfen und bringt jeden Tag rund 30 Falter, sobald sie fliegen können, in den Garten. Dann haben die Falter die freie Wahl, sich auch für andere Biotope mit entsprechenden Nektarpflanzen zu entscheiden. Das ist sicher ganz im Sinne der künstlerischen Leiterin der Documenta Carolyn Christow-Bakargiew (CCB), die, wie man liest, ein Wahlrecht für Hunde gefordert haben soll. Während unseres Besuches in Kassel haben wir übrigens keinen einzigen Falter auf dem vom Verkehr umtosten Platz gesehen. Was schließen wir daraus?

"Documenta 13: Kristina Buch: 'Leere Puppenhülsen und einhundert Tage' (Ausschnitt)", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Documenta 13: Kristina Buch: Leere Puppenhülsen und einhundert Tage (Ausschnitt)«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Aber etwas wird von Buchs Aktion über die Documenta hinaus bleiben: die leeren Puppenhülsen. Buch lebt während der Documenta in Kassel und wird jeden Tag in einer Vitrine in der Documenta-Halle die leeren Puppenhülsen der geschlüpften Falter aufspießen. Den Titel der Arbeit The Lover kann ich allerdings immer noch nicht nachvollziehen. Eine Übersicht aller dreizehn Artikel der “Impressionen zur dOKUMENTA (13)” meines Documenta-Besuchs finden Sie hier.

Alfredo Jaar »The way it is« – Ästhetik des Widerstands

Von Friedhelm Denkeler,

Retrospektive in drei Berliner Institutionen: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK), Berlinische Galerie und Alte Nationalgalerie

"Alfredo Jaar: '1+1+1' (Bild 1)", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
„Alfredo Jaar: ‚1+1+1‘ (Bild 1)“, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Die Kunst-Besucher in Berlin müssen, wenn sie die in sechs Werkgruppen gegliederte Retrospektive des in New York lebenden Chilenen Alfredo Jaar komplett sehen wollen, eine kleine Stadtrundreise machen: von der Kreuzberger Oranienstraße und der Jacobstraße auf die Museumsinsel in die Alte Nationalgalerie.

Und die Rundreise lohnt sich: So kurz nach den wenig überzeugenden politischen und provokativen Veranstaltungen der Berlin Biennale des Artur Zmijewski und der Kasseler Documenta 13 der Carolyn Christow-Bakargiew (CCB) ist Alfredo Jaars politisch und künstlerisch anspruchsvolles Werk wohltuend anzusehen.

Während um die Berlin Biennale viel Tam-Tam gemacht wurde, wurde die von der NGBK erarbeitete Werkschau The way it is über ein fast vier Jahrzehnte künstlerisches Schaffen eher wenig beachtet.

Auch Jaar möchte die Welt verändern, aber was für ein Unterschied: Sein Werk hat Substanz, eine echte Botschaft; er findet die richtige Ästhetik für das, was er ausdrücken möchte und das alles ohne Provokation. Alfredo Jaar hat übrigens an der Documenta 8 (1987) und der Documenta 11 (2002) teilgenommen.

"Alfredo Jaar: '1+1+1' (Bild 2)", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Alfredo Jaar: 1+1+1 (Bild 2)«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Die NGBK zeigt insbesondere Jaars Frühwerk, das zwischen 1974 und 1981 in Chile entstanden ist.

In der Berlinischen Galerie werden vier Werkgruppen präsentiert: das Pergamon-Projekt Eine Ästhetik zum Widerstand; seine Serie über den Völkermord in Ruanda und weitere Afrika-bezogene Arbeiten; Installationen, in denen das Licht und dessen Blendung eine Rolle spielen (wurde auf der Documenta 11 gezeigt) und seine Press Works, in denen er sich kritisch mit der Aktualität von Presseberichten und der Beeinflussung der öffentlichen Meinung auseinandersetzt.

Im Liebermann-Saal der Alten Nationalgalerie ist Jaars Installation 1+1+1 (siehe Fotos) von der Documenta 8, mit der er vor 25 Jahren internationale Anerkennung fand, zu sehen. Diese Arbeit besteht aus drei Fotos in einem Leuchtkasten, auf dem Boden liegt jeweils ein goldener Rahmen: Auf dem ersten Foto ist der Goldrahmen leer und nur die Füße von Kindern und Erwachsenen aus El Salvador sind verkehrt herum zu sehen, auf dem zweiten Foto ist der Goldrahmen vollständig mit weiteren kleineren Rahmen bedeckt und auf dem dritten Bild sind die Beine, dank eines Spiegels im Goldrahmen, richtig herum. Es ist eine Metapher auf die Realität und die Kunstwelt: »Kunst ermöglicht, die Welt verständlich wahrzunehmen« (Todorov).

"Alfredo Jaar: '1+1+1' (Bild 3)", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Alfredo Jaar: 1+1+1 (Bild 3)«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Diese Arbeit und eine ähnliche im Leibl-Saal sind in die Sammlung des 19. Jahrhunderts der Alten Nationalgalerie integriert. Jarrs Anliegen ist die Politik der Bilder, jene Macht also, die Bilder haben und zwar diejenigen, die gezeigt werden ebenso wie die, die in den Archiven schlummern und nicht gezeigt werden. Jarr will sich nicht auf die Medien verlassen, er recherchiert lieber selber.

Andrea Hilgenstock schreibt in der Kunstzeitung zu Jaars Arbeiten: »Essays und Übungen über das nicht Darstellbare, nennt er seine Kunst … Es gibt ja nur wenige, die es sich so schwermachen wie er, der zum Beispiel durch Ruanda reiste, ohne nun Elendsbilder zu präsentieren. Kein Larifari, sondern Zusammenhänge. Ein Medien- und Bilderkritiker, der trotzdem Bilder schafft – gut dass es ihn gibt!«

Die Ausstellungen sind noch wie folgt zu sehen: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) nur noch bis zum 19.08.2012, Berlinische Galerie bis zum 17.09.2012 und Alte Nationalgalerie bis zum 16.09.2012.

Die erste große Liebe oder: Erinnerung an eine Phantasie

Von Friedhelm Denkeler,

»Moonrise Kingdom« von Wes Anderson mit Bill Murray, Tilda Swinton, Bruce Willis, Frances McDormand, Edward Norton und Harvey Keitel

Es geht um große Liebe, um eine neue, junge Liebe, um eine Liebe, die immer wieder durchgeschüttelt und bedroht wird, um das Feuer der Liebe, das niemand löschen kann, aber auch um die uralte Geschichte, dass jeder Mensch geliebt werden will – sogar ein Polizist [Bruce Willis auf der Pressekonferenz in Cannes anlässlich des Eröffnungsfilms »Moonrise Kingdom« von Wes Anderson]

«Penzance Island«, Foto © Friedhelm Denkeler 2010
«Penzance Island«, Foto © Friedhelm Denkeler 2010

Nach The Royal Tenenbaums (2001) und The Life Aquatic with Steve Zissou (Die Tiefseetaucher, 2004), ist der diesjährige Eröffnungsfilm von Cannes Moonrise Kingdom mein dritter Film, den ich von Wes Anderson gesehen habe: Und wieder wurde ich nicht enttäuscht. Keiner inszeniert so künstlich-schöne Filme, mit schrägem Humor, 1960er-Jahre-Feeling, skurrilen Details, Indian-Summer-Farben und künstlerischer Überhöhung wie er – ein echter Wes Anderson eben. Es scheint sein persönlichstes Werk zu sein, zumindest ist es seine Erinnerung an eine Kindheitsphantasie oder er wünschte, dass er das so erlebt hätte.

Es geht um die große Liebe zweier zwölfjähriger Außenseiter auf der Schwelle zum Teenager-Alter im Jahr 1965 auf dem fiktiven New Penzance Island vor der Küste Neuenglands. Suzy, die verträumte Außenseiterin und Sam, der Pfadfinder, verlieben sich auf der Schulaufführung der Kinderoper Noahs Sintflut von Benjamin Britten und beschließen, gemeinsam in die Wildnis zu fliehen. Die Ausreißer wollen zur Bucht Moonrise Kindom am anderen Ende der Insel. Hier schlafen sie, eng aneinander gekuschelt, in Sams Zelt ein.

Bald ist ihnen die halbe Inselbevölkerung auf den Fersen, die mit dieser Aufgabe komplett überfordert ist: Suzys neurotische Eltern (Bill Murray, Frances McDormand) mit dem ehrbaren Beruf der Rechtsanwälte, Sams streng gedrillte Pfadfinder-Truppe mit Pfadfinderanführer Ward (Edward Norton), der alte Pfadfinder Commander Pierce (Harvey Keitel), Sams Pflegeeltern, die nicht unglücklich über sein Verschwinden sind, ein melancholischer Polizist (Bruce Willis), das mit Elektroschocks drohende Jugendamt (Tilda Swinton) und eine aufkommende Sturmflut, an deren Ende es die Bucht nicht mehr geben wird.

Moonrise Kingdom ist kein Kinderfilm, aber ein Film auch für Kinder. Zwar versteht keiner sich selbst oder den anderen, aber alle reden überzeugend aneinander vorbei. Wes Anderson fehlen oftmals die Worte für die skurrilen Ereignisse, aber die passenden Bilder für das Geschehen hat er allemal.

Angelhaken, die zu Ohrringen mutieren, ein tragbarer Plattenspieler mit Ersatzbatterien, ein Baumhaus auf einem absurd hohen Baum, eine Schere für Linkshänder, ein Koffer mit Lieblings-Büchern, ein Megafon, mit dem die Mutter ihre Familie zum Essen ruft, die kurze Hose und die weißen Socken des Inselpolizisten, der lila Lidschatten der Zwölfjährigen und ein exakt kreisrundes Loch in der Zeltwand, das der Zwölfjähriger hineingeschnitten hat, um abzuhauen, sowie der fokussierende Blick durch das Fernglas spielen liebenswerte Nebenrollen. Viel mehr verraten möchte ich hier nicht, nur so viel: alles wird gut; einfach ein zauberhafter Film. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Trailer Moonrise Kingdom

Kommt Zeit, kommt Rat

Von Friedhelm Denkeler,

»Kommt Zeit, kommt Rat«, Volksmund, Foto/Grafik © Friedhelm Denkeler 2003
»Kommt Zeit, kommt Rat«, Volksmund, Foto/Grafik © Friedhelm Denkeler 2003
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The Sparrow – Spatzen gibt es nicht nur in Berlin

Von Friedhelm Denkeler,

»Travelling Shoes« von Lawrence Arabia

Pop-Kunsthandwerk, das trotz großer Geste ganz bescheiden bleibt. [Musikexpress zu Lawrence Arabia]

Auf der Suche nach dem Sommerhit 2012 habe ich das Blog Song des Tages entdeckt. Unter dem Motto We can be heroes. Just for one day (sicherlich nach der Textzeile aus David Bowies Heroes) stellen die drei Blogger seit Mai 2010 jeden Tag einen Song vor. Und fast jeder Tag bietet eine Überraschung: Ein meist noch nicht so bekannter und gleichzeitig neuer Song wird vorgestellt, aber auch immer wieder ein Oldie.

Die Blogger schreiben »Song des Tages ist ein Blog über Songs, die wir mögen. Die wir für bemerkenswert halten. Die wir der Welt nicht vorenthalten dürfen. Diese Songs sind neu, alt, laut, leise.« Da ich das Blog bereits eine Zeit lang verfolge, habe ich es im Blogroll jetzt dauerhaft verlinkt.

"Sparrows", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Sparrows«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Nun aber zu Lawrence Arabia. Warum der Neuseeländer sich ausgerechnet Lawrence von Arabien nennt, ist nicht herauszufinden; mit bürgerlichen Namen heißt er jedenfalls James Milne und macht mit seiner Band The Prime Ministers großartige, leichte Popmusik, richtig passend zum Sommer. Herausgesucht habe ich den ersten Song aus seinem neuen, dritten Album The Sparrow (2012): Lawrence Arabia: »Travelling Shoes«

Der Musikexpress schreibt: »Unaufdringliche Streicher, geschickt platzierte Bläser, ein wohlig warmes Klavier, ein sanft rollender Bass. Aber, und das scheint die Grundidee zu sein, niemals zu viel vom Guten: The Sparrow klingt zwar üppig, aber nicht überladen, nach großer Geste, aber doch bescheiden. Milne gelingt das Kunststück, mit relativ spartanischen Mitteln den Eindruck von großem, zeitlosem Pop zu erwecken. Damit erfindet er zwar das Rad nicht neu, aber auf solchem Niveau wird Pop-Kunsthandwerk nicht jeden Tag geliefert.«

Die Songs von The Sparrow erinnern an die alten Byrds, Kinks und Beatles aber auch an Richard Hawley. Von der Musik der späten 1960er und frühen 1970er Jahre, so erklärt Milne selber, ist er immer wieder begeistert. Und so hat er ein beschwingtes, melancholisches und anspruchsvolles Retropop-Album, sein drittes bereits, geschaffen – wie ein leichter Spatz. Vielleicht doch ein bisschen zu seicht? Das wird die Zeit zeigen.

Übrigens: Am 10. September 2012 kann man die Live-Qualitäten von Lawrence Arabia in Berlin im Roten Salon der Volksbühne überprüfen. Zwei weitere Videos von Lawrence Arabia Auckland CBD Part Two und I’ve Smoked Too Much, beide vom zweiten Album Chant Darling (2009), habe ich gefunden.

Diane Arbus – In der Dunkelkammer der Menschheit

Von Friedhelm Denkeler,

Das Werk der großen Fotografin im Berliner Martin-Gropius-Bau

Nichts ist so, wie es angeblich sein soll. Ich erkenne nur das wieder, was ich noch nie gesehen habe [Diane Arbus]

Vorab: die Berliner Ausstellung zeigt neben den bekannten Werken der Diane Arbus auch viele neue Fotos, aber der Gesamteindruck von Arbus Werk verändert sich dadurch nicht. Die besten Fotografien hatte sie bereits zu Lebzeiten selbst veröffentlicht.

"Arbus und das Fotografierverbot", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Arbus und das Fotografierverbot«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Der Sinn, warum in der Ausstellung auf eine chronologische, thematische oder wissenschaftliche Ordnung verzichtet wurde, hat sich mir nicht erschlossen. So gesehen zeigt der Gropius-Bau für diejenigen, die ihr Schaffen kennen, keine neuen Erkenntnisse.

Rund 200 Schwarz-Weiß-Bilder hängen von Diane Arbus (New York 1923 – 1971) im Gropius-Bau: Porträts von Mittelklassefamilien, Paaren, Kindern, Obdachlosen, Jahrmarktartisten, Dominas, Tätowierten, Nudisten, Transvestiten, Exzentrikern und Prominenten.

Ein Transvestit mit Lockenwicklern, eine nackte Kellnerin mit kleiner Spitzenschürze, eine ältere Dame mit Schleier und Perlenohrringen, das eineiige Zwillingspaar in New Jersey oder ein Junge mit einer Spielzeuggranate; sie alle leben von der Mischung aus Distanz und Arbus Fähigkeit, sich in die Porträtierten hineinzuversetzen.

Zum Schluss noch etwas Nerviges: Der Gropius-Bau glänzte bisher bekanntlich durch sein ständiges Fotografierverbot. Und zur Arbus-Ausstellung schon wieder: bis zu zwei Fotografierverbot-Aufsteller wurden zusätzlich an den Eingängen platziert. Auch die Praktiken zur Verwendung der Pressebilder sind rigoros durch die Estate of Diane Arbus LLC beschnitten: so müssen zum Beispiel die zur Verfügung gestellten Bilder spätestens 60 Tage nach Ausstellungsende aus dem Netz genommen werden. Nein, Danke.

Nach Diane Arbus Tod beauftragten die Erben Neil Selkirk, ihre Dunkelkammer mit den 7000 Filmrollen zu durchforsten und limitierte Abzüge herzustellen, die mittlerweile auf Auktionen Zehntausende Dollar erlösen. Ob dieser Kommerz im Sinne von Diane Arbus ist, wage ich zu bezweifeln. Der Martin-Gropius-Bau leistet mit dieser Ausstellung diesbezüglich noch Vorschub. Mit Kunst hat das eher weniger zu tun – oder gerade doch? Dessen ungeachtet gilt Diane Arbus, neben Robert Frank und Richard Avedon, zu Recht als Kultfigur der US-amerikanischen Fotografie.

Es ist ein bisschen, als würde man in eine Halluzination hineinspazieren, ohne genau zu wissen, wessen Halluzination es ist… Es ist, als hätten Adam und Eva nach dem Sündenfall Gott angefleht, ihnen zu vergeben, und er in seiner grenzenlosen Verbitterung gesagt hätte: ‚Also gut, dann bleibt. Bleibt im Garten Eden. Werdet zivilisiert. Vermehrt euch. Verpfuscht es.‘ Und genau das haben sie getan. [Diane Arbus zu den Nudisten-Camps]

Vier blaue Haufen – Aber wo sind die Blauen Pferde?

Von Friedhelm Denkeler,

Martin Gostner mit »Der Erker der Blauen Pferde« auf der Terrasse der Neuen Nationalgalerie Berlin

Bei einem Spaziergang auf der Terrasse rund um die Neue Nationalgalerie in Berlin muss man zurzeit sehr vorsichtig sein, sonst tritt man in einen Misthaufen. Wer danach sucht, entdeckt vier verschiedene Haufen mit blauen Pferdeäpfeln. Aber welche Pferde haben sie dort hinterlassen und vor allen Dingen, wo sind die dazugehörenden Pferde geblieben? Zur Beruhigung: es handelt sich um die geruchsneutrale „Hinterlassenschaft“ des Künstlers Martin Gostner; aber wo die Blauen Pferde und der dazugehörige Turm geblieben sind, kann er auch nicht erklären.

»Blaue Pferdeäpfel«, Martin Gostner: »Der Erker der Blauen Pferde«, Neue Nationalgalerie, Berlin Kulturforum, Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Blaue Pferdeäpfel«, Martin Gostner: »Der Erker der Blauen Pferde«, Neue Nationalgalerie, Berlin Kulturforum, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Das Gemälde »Der Turm der blauen Pferde« (1913) von Franz Marc wurde von den Nazis als entartet verfemt. Das Meisterwerk des Expressionismus wurde 1919 von der Nationalgalerie angekauft und gehörte bis zu seiner Beschlagnahmung 1937 zum Kernbestand des Museums. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gilt es als verschollen. Angeblich hat man es in Berlin-Zehlendorf bis 1949 noch gesehen, später vermutete man es in einem Schweizer Banksafe. Vielleicht lagert es als Kriegsbeute an einem unbekannten Ort oder es wurde zerstört?

Martin Gostner will mit seiner Installation, wie bereits mit seinen sechs vorhergehende Aktionen (Erker-Projekt) an verschiedenen Orten, auf das verschwundene Gemälde hinweisen; auf dass die Pferde in den Stall zurückkommen, dorthin, wohin sie gehören: in die Neue Nationalgalerie. Das Gemälde Der Turm der blauen Pferde finden Sie zum Beispiel hier.

Poetische Begegnung mit alltäglichen Materialien

Von Friedhelm Denkeler,

Zwischen Makro-Ebene und Mikro-Ebene: Der Sammler Gabriel Orozco baut aus Fundstücken eine Collage.

"Sandstars" von Gabriel Orozco, Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Sandstars« von Gabriel Orozco, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Nach der Rückkehr aus Kassel von der Documenta fürchtete ich schon »Entzugserscheinungen«, aber dem war nicht so: auch in Berlin gibt es viel »Documenta« zu sehen. Da ist zunächst der Mexikaner Gabriel Orozco mit seinem Werk Asterisms“ im Deutsche Guggenheim Unter den Linden.

Die Arbeit erinnert sehr an Tage zuvor auf der Documenta Gesehenes: Kein Wunder, Orozco war bereits auf der Documenta 10 (1997) und Documenta 11 (2002) vertreten. Die aktuelle Berliner Ausstellung besteht aus zwei Teilen: Sandstars und Astroturf Constellation und ist eine Auftragsarbeit für das Deutsche Guggenheim.

Sandstars entstand als Reaktion auf den einzigartigen Landschaftsraum der Isla Arena, einem Schutzreservat an der mexikanischen Pazifikküste, deren Gewässer Wale immer wieder als Paarungsgebiet und Friedhof ansteuern. Orozco legte dort vor einigen Jahren bereits ein Walskelett frei… Die gewaltigen Müllmengen am Strand inspirierten ihn bei seinem zweiten Besuch zu einer neuen Arbeit.

Aus aus dem vom Meer angespülten Material fertigte Orozco eine große skulpturale Installation. Auf dem Fußboden ausgebreitet und geordnet bilden die beinahe 1.200 Fundstücke einen monumentalen Objekt-Teppich. Diesen ergänzen zwölf großformatige Fotografien, auf denen Orozco die typologisch nach Material, Farbe und Größe sortierten Objekte im Studio aufgenommen hat.

"Sandstars" von Gabriel Orozco, Foto © Friedhelm Denkeler 2012
„Sandstars“ von Gabriel Orozco, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Astroturf Constellation erkundet solche Ordnungsmuster auf ähnliche Weise. Allerdings haben die Objekte einen völlig anderen Maßstab: Das Werk besteht aus einer Ansammlung von sehr kleinteiligem Abfall, den Sportler und Zuschauer auf einem Sportplatz in New York City zurückgelassen haben.

Orozco präsentiert diese Fundstücke, wiederum fast 1.200 an der Zahl, auf einem Podest. Wie in Sandstars werden neben den Objekten dreizehn Fototableaus gezeigt, so dass die einzelnen Objekte visuell mit ihrer fotografischen Darstellung korrespondieren.

Die Ausstellung Asterisms stellt diese zwei Installationen, die sich zwischen Makro- und Mikroebene bewegen, einander gegenüber und greift typische Themen von Orozcos Werk auf: poetische Begegnungen mit alltäglichen Materialien, die Präsenz von Erosionsspuren und die stets gegenwärtige Spannung zwischen Natur und Kultur.“
[Quelle: Presseerklärung].

Die Makro- und Mikro-Ebenen verschwinden natürlich auf den Fotografien von Orozco, genau das ist vom ihm auch so gewollt. Meine beiden Fotos zeigen die Sandstars, die mehr als die Hälfte der Ausstellungsfläche einnehmen, von beiden Stirnseiten. Eine sehenswerte Ausstellung, deren Konzept wohltuend überzeugend ist.

Eine Übersicht von ausgewählten Ausstellungen des “European Month of Photography – EMoP” finden Sie auf meiner Übersicht.

Zusammenfassung dOCUMENTA in Kassel

Von Friedhelm Denkeler,

Übersicht aller Artikel der dOKUMENTA in Kassel.

Das offizielle Plakat der dOCUMENTA (13), Foto © Friedhelm Denkeler 2012
Das offizielle Plakat der dOCUMENTA (13), Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Ein Schmetterlingsgarten ohne Schmetterlinge und eine Welle ohne Welle

Von Friedhelm Denkeler,

Impressionen von der dOCUMENTA 13 in Kassel (12)

"Documenta 13: Song Dong mit Doing Nothing Garden", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Documenta 13: Song Dong mit Doing Nothing Garden«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Mitten auf der Karlswiese vor der Orangerie in der Karlsaue hat der chinesische Installations- und Performance-Künstler Song Dong einen sechs Meter hohen Berg aufgeschüttet: „Doing Nothing Garden“. Der Bonsaiberg besteht im Wesentlichen aus Zivilisationsmüll. Dieser ist Schicht für Schicht mit organischen Abfällen und Erde überdeckt und mit Gras und Wildkräutern überwachsen (siehe Foto). Abends sollen die Neon-Schriftzeichen Doing Nothing zu lesen sein. Ein künstlicher Berg in einer Kunstlandschaft; »gleichwohl ist er ein in sich lebender Organismus und beweist so, dass im richtigen Kontext sogar Nichtstun schöpferische Wirkung entfalten kann« [Katalog].

"Documenta 13: Kristina Buchs Schmetterlingsgarten", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Documenta 13: Kristina Buchs Schmetterlingsgarten«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Die deutsche Künstlerin Kristina Buch hat eine ähnliche Arbeit auf dem Friedrichsplatz vor dem Staatstheater Kassel geschaffen. Dieses Werk erinnert aber eher an die erste Documenta 1955, die im Rahmen der Bundesgartenschau stattfand. Ein quadratischer Miniatur-Garten wächst auf einem erhöhten Podium. Dieser „hängende“ Garten wurde mit Brennnesseln und Disteln rund um eine farbige Blütenpracht bepflanzt; der ideale Garten für Schmetterlinge. Dazu wurden dort Hunderte Schmetterlingspuppen ausgelegt. Sie sollen die Blumeninsel bevölkern. Ich konnte leider keinen einzigen Falter ausmachen (siehe Foto).

"Documenta 13: Massimo Bartolinis Wave", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Documenta 13: Massimo Bartolinis Wave«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

So ähnlich erging es mir bei der Arbeit des Italieners Massimo Bartolini, Wave genannt. Während unseres Besuches war die Welle nur ohne Welle zu sehen. Sie besteht aus einem in die Karlswiese eingelassenen rechteckigen, mit Wasser gefüllten Bassin, umgeben von einem Kornfeld. In dem Bassin soll eine Welle gleichmäßig hin und her schwappen, eine Welle, die nirgendwo hin wandern kann und niemals ausläuft (siehe Foto).

Das war der letzte Vormittag in Kassel, den wir noch einmal in der Karlsaue und an der Fulda verbrachten, und wir warfen noch einen Blick auf Claes Oldenborgs große Spitzhacke (1982, Documenta 7) am Ufer der Fulda.

"Documenta 7: Claes Oldenborgs Spitzhacke", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Documenta 7: Claes Oldenborgs Spitzhacke«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Auf den Hund gekommen oder: Darsi ist immer dabei

Von Friedhelm Denkeler,

Impressionen von der dOCUMENTA 13 in Kassel

"Documenta 13: Carolyn Christow-Bakargiew (CCB) mit Malteserhund Darsi", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
„Documenta 13: Carolyn Christow-Bakargiew (CCB) mit Malteserhund Darsi“, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Nach zehn Artikeln ist es Zeit für eine Zwischenbilanz. Oder wird es eine Schlussbilanz? Schon seit Monaten grübelt die Kunstwelt über das Konzept der Documenta 13, bzw. das Konzept der künstlerischen Leiterin Carolyn Christow-Bakargiew (CCB).

Eigentlich sollte das Konzept ja aus dem „Brain“ im Fridericianum hervorgehen (siehe Viel Wind um nichts), aber das Durcheinander bzw. die Konzeptlosigkeit setzte sich auch an den anderen Ausstellungsorten fort.

Es fehlen Schwerpunktsetzungen in den Häusern und Außenräumen. Man braucht einen Tag, um zu erkennen, dass es kein inhaltliches und räumliches Konzept gibt (aber das hat CCB ja von Anfang an gesagt!).

Überall geht es durcheinander: Ökologisches, Wellness, Couscous-Köchinnen, Hitlers Handtuch, fair gehandelte Buttermilch, Gruppen-therapeutisches, Feministisches, Wissenschaft, betende Motoren, fühlende Steine, Ameisen, Mangoldzucht auf einer Fähre, Teilchentheorie, Geschichte und Politik. Das war in der Rotunde, im Brain, bereits zu ahnen. Mit Malerei und Fotografie kann CCB wenig anfangen. Installationen sind angesagt.

Die Karlsaue ist mit Holzhütten aus dem Baumarkt überschwemmt; teilweise mit banalem Inhalt: Eine Aufklärungsbude zum Thema Nationalsozialismus ist nun wirklich zu einfach gedacht und esoterischer Kram soll doch bitte Privatsache bleiben. CCB und einige Künstler sonnen sich in vermeintlicher politischer Relevanz, die oftmals verbunden ist mit ästhetischer Dürftigkeit. Wenn Politik und Ökonomie scheitern, wie soll es dann die Kunst richten?

"Documenta 13: Pierre Huygues Windhund", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Documenta 13: Pierre Huygues Windhund«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

CCB sieht keinen Unterschied zwischen Menschen und Hunden; wir sollten uns mehr in die Wahrnehmungswelt der Vierbeiner hinein fühlen (so etwas Ähnliches hat sie auch über Tomaten gesagt). Dabei ist dann zum Beispiel Brian Jungens (Kanada) Hundespielplatz in der Karlsaue herausgekommen, den man übrigens nur mit einem Vierbeiner betreten darf. Ganz witzig hingegen ist noch der Windhund mit dem rosaroten Bein des französischen Künstlers Pierre Huyghe anzusehen. Aber reicht das für eine internationale Kunstausstellung aus?

Jeder Geschmack ist anders. Es gibt aber einige allgemeingültige Theorien und Kriterien, die nicht einer gewissen Beliebigkeit zum Opfer fallen sollten. Auch richtige Kunst ist in Kassel zu sehen, man muss nur etwas suchen und welche Künstler wirklich Bestand haben, werden die nächsten Jahre zeigen. Ist die Documenta etwa auf den Hund gekommen? Nein, sie ist immer noch eine der wichtigsten Kunstausstellungen der Welt. Und dieses Mal ist eben Darsi immer dabei. Der Geist der Karlsaue von Apichatpong Weerasethakul aus Thailand thront über allem. Was würde Malteserhündin Darsi dazu sagen, wenn sie könnte? Oder liefe sie vor dem Geist davon?

"Documenta 13: Der Geist der Karlsaue von Apichatpong Weerasethakul", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Documenta 13: Der Geist der Karlsaue von Apichatpong Weerasethakul«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Ein Boot im Baum, eine verzerrte Uhr am Fluss und eine Zeitreise im Schilf

Von Friedhelm Denkeler,

Impressionen von der dOCUMENTA 13 in Kassel

"Documenta 13: Das Hexenhaus von Shinro Ohtake", aus der Serie "Pentimenti", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
„Documenta 13: Das Hexenhaus von Shinro Ohtake“, aus der Serie „Pentimenti“, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Der japanische Maler und Bildhauer Shinro Ohtake hat eine Sprache entwickelt, die auf Bilder der Massenmedien reagiert. In Kassel hat er im hinteren Teil der Karlsaue, nahe der Fulda, das Hexenhaus Mon Cheri: A Self-Portrait as a Scrapped Shed gebaut. Eine vorgefertigte Hütte hat er um Objekte und Materialien ergänzt, die er in verschiedenen Ländern gesammelt hat (siehe Foto).

Die schreiend kirmesbunte Hütte erinnert an einen japanischen Imbissstand. Alle möglichen Alltagsmaterialien wie Neonschilder, Plakate, Fotos und verschiedene laufende Videos hat Ohtake in, auf und um die Hütte herum platziert. Hinzukommen Geräusche und Töne, die er akustisch eingefangen hat und die nun durch die Besucher, wenn sie um das Werk herumgehen, aktiviert werden. Und hier sehe ich auch endlich das bereits aus zahlreichen Abbildungen bekannte hängende Boot im Baum in Natura (siehe Foto und ein Video). Ob dies eine Erinnerung an einen Tsunami oder die Installation eine Lebens-Collage darstellt, möge jeder Betrachter für sich entscheiden.

"Documenta 13: Shinro Ohtakes Boot im Baum", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
„Documenta 13: Shinro Ohtakes Boot im Baum“, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Am Ende des Hirschgrabens, einem der beiden Kanäle, die radial von der Orangerie aus in den Park verlaufen, findet man eine merkwürdig verzerrte Uhr: Obwohl der Betrachter frontal auf das Zifferblatt schaut, erhält er den Eindruck die Uhr stünde um etwa 45 Grad verdreht. Clocked Perspective hat der in Berlin lebende Albaner Anri Sala sein irritierendes Werk genannt. Da die mechanische Uhr zur Ellipse verzerrt ist, muss sie auch ein elliptisches Getriebe aufweisen, so dass die Zeiger beschleunigt und verlangsamt werden. Dadurch zeigt die Uhr trotz der Verzerrungen immer die richtige Zeit an (siehe Foto).

"Documenta 13: Die elliptische Uhr von Anri Sala", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
„Documenta 13: Die elliptische Uhr von Anri Sala“, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Zu den Hauptorten der Documenta, dem Fridericianum und der Documenta-Halle am Friedrichsplatz, den Grünflächen der barocken Karlsaue einschließlich der Orangerie und den industriellen Hallen am Hauptbahnhof, gehört auch die Neue Galerie. »Diese ehemals Königliche Gemäldegalerie genannte Einrichtung beherbergte in der Vergangenheit die landgräfliche Sammlung Alter Meister. 1976 wurde sie unter dem Namen Neue Galerie wieder eröffnet und dient nun der Ausstellung von Werken der Plastik, der Malerei und der Neuen Medien vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. [Katalog].

"Documenta 13: Geoffrey Farmers Leaves of Grass (Twiggy)", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
„Documenta 13: Geoffrey Farmers Leaves of Grass (Twiggy)“, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Im ersten Stock ist die fantastische Arbeit Leaves of Grass des kanadischen Installationskünstlers Geoffrey Farmer zu bewundern. Er hat fünfzig Jahrgänge des Magazins Life zerschnitten, Einzelteile auf Pappe geklebt und an Schilfhalmen befestigt. Entstanden sind so über tausend Silhouetten, die chronologisch hintereinander gestellt, eine irre und phantasievolle Zeitreise ergeben. Auf der anderen Seite dieser Installation sind die Figuren nach einzelnen Themen wie Fotografie, Geschichte, Prominente etc. angeordnet. Für mich eine der besten Arbeit der diesjährigen Documenta, die auch an einem hervorragenden Ort in der Galerie präsentiert wird (siehe Foto und ein Video).

TÜV-geprüfte Galgen und ein Sanatorium

Von Friedhelm Denkeler,

Impressionen von der dOCUMENTA 13 in Kassel

"Documenta 13: Ein Gerüst aus Galgen (Scaffold) von Sam Durant", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Documenta 13: Ein Gerüst aus Galgen (Scaffold) von Sam Durant0«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Wir sind zurück im „Künstlerdorf“ in der Karlsaue. Mitten im Landschaftspark, auf der zentralen Sichtachse zwischen der Orangerie und dem Schwanenteich, hat der US-amerikanische Künstler Sam Durant das hoch aufragende Holzkonstrukt Scaffold, ein Mittelding zwischen Klettergerüst und Aussichtsplattform, errichtet. Dass es ein Mahnmal gegen die Todesstrafe ist, erkennt man erst bei genauerem Hinsehen (siehe Foto).

Das Gerüst besteht aus einzelnen, ineinander verschachtelten Galgen. Noch deutlicher wird dies, wenn man auf das Gerüst klettert; erst dann sieht man, dass die Plattform keine normale Plattform ist, sondern eine seltsame Form aus Podesten, Toren und hoch aufragenden Pfosten aufweist. Einige Bauelemente erinnern an Falltüren. Größe und Material der einzelnen Galgen sollen so genau wie möglich mit der jeweiligen Originalkonstruktion übereinstimmen. Um den heutigen Bau- und Sicherheitsvorschriften zu entsprechen, waren Anpassungen notwendig. Zur Installation gehört eine chronologische Auflistung zur Verwendung dieser Galgen. Ein bedrückendes aber auch eindrucksvolles Werk.

"Documenta 13: Das Sanatorium von Pedro Reyes", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Documenta 13: Das Sanatorium von Pedro Reyes«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Der mexikanische Künstler und Architekt Pedro Reyes hat in der Karlsaue ein Sanatorium errichtet (siehe Foto), in dem die typischen Krankheiten der Städter behandelt werden: Stress, Einsamkeit und Angstgefühle. Es gibt acht Behandlungsmethoden, die mit Placebos vorgenommen werden: Der Patient kann also seine Denkweise selbst korrigieren. Eine Behandlung war während unseres Besuches leider nicht möglich, da die behandelnde Ärztin eine typische Krankheit der Städter aufwies: Sie telefonierte ununterbrochen auf der Wiese vor dem Sanatorium (siehe Foto).

"Documenta 13: Ärztin mit Telefonitis", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Documenta 13: Ärztin mit Telefonitis«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Auch den Kompatibilitätstest für Paare machten wir nicht mit: Beide Partner suchen sich jene Obstsorten aus, mit denen sie sich am meisten identifizieren können. Im Mixer werden diese Sorten dann zusammengerührt. Ob man zusammenpasst – das ist dann reine Geschmackssache. Putzig! Kunst mit heilender Sofortwirkung ohne Erfolgsgarantie?

Ein Theaterstück und ein Lamellenvorhang

Von Friedhelm Denkeler,

Impressionen von der dOCUMENTA 13 in Kassel

Ebenfalls im Nordflügel des Kulturbahnhofs ist eine der eindrucksvollsten Inszenierungen des südafrikanischen Künstlers William Kentridge, der 2006 auch im Berliner Guggenheim mit der Black Box eine Einzelausstellung hatte, zu sehen. Mein Foto gibt nur einen unzureichenden Eindruck der fantastischen Multimedia-Installation The Refusal of Time, in der eine pneumatische Pumpuhr arbeitet, wieder.

"Documenta 13: Großes Zeittheater von William Kentridge", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Documenta 13: Großes Zeittheater von William Kentridge«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Das große Zeittheater, wie Kentridges grandiose Installation auch heißen könnte, handelt von der Entwicklung verschiedener Verfahren zur Normierung der Zeit im Industrie-Zeitalter. Es tauchen viele aus seinen Werken vertraute Motive wieder auf: Pneumatische Uhren, weitere mechanische Gerätschaften, Zylindermegafone, die von riesigen projizierten Metronomen und Filmen begleitet werden. Unbeschreibliche 28 Minuten eines Gesamtkunstwerks.

"Documenta 13: Pneumatische Uhr von William Kentridge", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Documenta 13: Pneumatische Uhr von William Kentridge«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Weiter geht es in die angrenzende Halle, die ehemals von Güterzügen befahren wurde. Nebenan ist, getrennt durch einen Maschendrahtzaun, ein scheinbar noch aktiver Paketumschlagsplatz. Unmittelbar über den nicht mehr genutzten Gleisen hängen die schwarzen Jalousien der in Berlin lebenden Koreanerin Haegue Yang. Ihre Installation fügt sich perfekt in die Halle ein: Approaching: Choreography Engineered in Never Past Tense verweist auf die Geschichte der Schwer- und Rüstungsindustrie in Kassel (siehe Foto).

"Documenta 13: Die Jalousien-Skulptur von Haegue Yang", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Documenta 13: Die Jalousien-Skulptur von Haegue Yang«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Alle motorisierten Aluminium-Jalousien werden computerunterstützt gesteuert. Nach einer geisterhaften Choreographie schließen und öffnen sich die beweglichen Lamellen, fahren herauf und hinunter. Sie halten in immer wieder neuen Formationen an und stehen für eine Weile still; jedes Mal entsteht dadurch eine neue Skulptur. In vergrößertem Maßstab erinnert dies auch eine Modell-Eisenbahnanlage, auf der die Züge immer einmal wieder fahren und anhalten. Sehenswert.

Vom Schlammhügel zur Näherei

Von Friedhelm Denkeler,

Impressionen von der dOCUMENTA 13 in Kassel

"Documenta 13: Der Lehmberg des Michael Portnoy", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Documenta 13: Der Lehmberg des Michael Portnoy«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Der Nordflügel am Kulturbahnhof in Kassel besteht aus zwei langen, ehemaligen Lagerhallen mit alten verbeulten Rolltoren hinter denen die Kunst rohe, dunkle Orte gefunden hat. In der ersten Halle hat der US-Amerikaner Michael Portnoy einen riesigen, braunroten Schlammberg aus Lehm aufschütten lassen. Die Arbeit, an deren Rändern Wasser heraus sickert, nennt er 27 Gnosis (siehe Foto). Der Berg an sich und in dieser Halle ist schon sehenswert; die Überraschung folgt, wenn man eine Leiter hinaufsteigt und in das Innere des Hügels sieht.

"Documenta 13: Die Gameshow im Lehmberg des Michael Portnoy", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Documenta 13: Die Gameshow im Lehmberg des Michael Portnoy«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Hier befindet sich die Einrichtung einer Gameshow, die während unseres Besuches leider nicht aktiviert war. »Nachmittags und abends leitet der Künstler vor einem wechselnden Hintergrund eine Spielshow an, die Angst, Erheiterung und Durcheinander geschickt ausnutzt und unvermittelte Wechsel in Inhalt, Kontext und Perspektive wie auch bei der Beleuchtung und im Maßstab aufweist. Sich auf das Absurde und Unheimliche stützend, zieht der Künstler die Besucherinnen und Besucher in das Spiel hinein und erzeugt eine Atmosphäre, die berauschend und furchteinflößend zugleich ist«, schreibt die Documenta. Verstehen muss man das aber nicht, Sehen reicht auch schon (siehe Foto).

"Documenta 13: Die Nähwerkstatt von István Csákány", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Documenta 13: Die Nähwerkstatt von István Csákány«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012
"Documenta 13: Schaufenstergestaltung von Seth Price bei Sinn Leffers", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Documenta 13: Schaufenstergestaltung von Seth Price bei Sinn Leffers«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

In der zweiten Halle hat der rumänisch-ungarische Installationskünstler und Bildhauer István Csákány The Sewing Room aufgestellt. Eine vollständige Nähwerkstatt mit komplett eingerichteten Arbeitsplätzen, mit Nähmaschinen, Bügelmaschinen und Neonröhren an der Decke. Mit großer Liebe zum Detail hat er die gesamte Fabrik aus Holz geschnitzt (siehe Foto). Wie lange er dafür gebraucht hat, ließ sich nicht feststellen.

Wenn der Betrachter will, kann er die Installation als Kritik an der Massenproduktion, der Ausbeutung und am Kapitalismus ansehen. Auf dem Rückweg zum Hotel kamen wir übrigens am Modehaus Sinn Leffers vorbei. Im Schaufenster war eine Kollektion des New Yorker Konzeptkünstlers Seth Price zu sehen, die auch im Haus verkauft wird. Das Schaufenster wurde gleichfalls von Seth Price gestaltet (siehe Foto), ebenso stellt er weitere Stoffskulpturen im Südflügel des Bahnhofs aus.

Ein Bürohaus als Bühne

Von Friedhelm Denkeler,

Impressionen von der dOCUMENTA 13 in Kassel

Etwa dreißig Kunstwerke gibt es an den Gleisen und in den sogenannten Nord- und Südflügeln in den ehemaligen, jetzt wilden Backstein-Lagerhallen, des Kulturbahnhofs zu entdecken. Sechs Arbeiten von sechs Künstlern möchte ich heute und morgen vorstellen. Allein diese Werke lohnen die Anreise nach Kassel.

"Documenta 13: Epaminonda/Cramer: End of Summer 1", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Documenta 13: Epaminonda/Cramer: End of Summer 1«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Die zyprische, in Berlin lebende Künstlerin Haris Epaminonda zeigt zusammen mit dem deutschen Daniel Gustav Cramer in einem einstigen Bürohaus des Bahnhofs über zwei Stockwerke und auf dem Dachboden, die Rauminstallation The End Of Summer (siehe Foto).

Die Künstler verwandeln die Räumlichkeiten in eine durchorganisierte, labyrinthische Bühne, in ein imaginäres Museum. Zu sehen sind fotografische Dokumente, vorgefundene Bilder, Gegenstände und Artefakte aus verschiedenen Kulturen. Diese sind in Gruppen aufgeteilt oder auch über die Räume verteilt. Es handelt sich um eine ästhetische und konzeptuelle, aber auch poetische „Erzählung“, deren Enträtselung in einem der oberen Räume in Form eines Briefes stattfindet. Die bisher schönste und beste Arbeit der Documenta 13 (siehe Foto).

"Documenta 13: Eisenkugel auf dem Dachboden", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Documenta 13: Eisenkugel auf dem Dachboden«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Als Krönung sehen wir den im Rohzustand belassenen Dachboden des Hauses, der in starkem Kontrast zu den vorhergehenden Räumlichkeiten ohne jegliche Fenster steht, denn hier zaubert die Sonne durch die kleinen Dachluken herrliche Lichteffekte in den Raum. Wie auch die anderen Räume, war aber auch der Dachboden minimalistisch eingerichtet: drei schwere, große Eisenkugeln (siehe Foto), mehr nicht.

Das gesamte Haus wurde sicher baupolizeilich abgenommen, davon zeugt auch der Notausgang auf dem Dachboden, der auf das schräge Dach mündete. Wie sollte man von dort flüchten können? Mein letztes Foto zeigt die Antwort.

"Documenta 13: Notausgang im Nordflügel", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Documenta 13: Notausgang im Nordflügel«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012