… oder als Metapher für unsere Zeit, in der ganze Staaten über ihre Verhältnisse leben?
Ohne den Kirschgarten würde ich mein eigenes Leben nicht mehr verstehen
[Die Ranjewskaja im Kirschgarten]
Der Sommer ist vorbei, die Kirschen sind abgeerntet, aber letzte Woche am Berliner-Ensemble im Theater am Schiffbauerdamm blühte beides als Tragikomödie noch einmal auf dem Gut der Ranewskaja auf: »Der Kirschgarten« von Anton Tschechow mit Cornelia Froboess und Jürgen Holtz, in der Fassung von Thomas Brasch und unter der Regie von Thomas Langhoff. Der Kirschgarten wirft keine Ernte mehr ab, er steht nur noch für das Schöne, das am Ende abgeholzt wird.
Das Stück spielt um 1900 auf einem russischen Landgut mit einem schönen alten Kirschgarten. Anja, die Tochter der Gutsbesitzerin Ranjewskaja, holt ihre Mutter aus Paris zurück, weil das Anwesen hoch verschuldet ist und versteigert werden muss. Rettung kommt vom Kaufmann Lopachin, dem ehemaligen Leibeigenen der Familie. Er will allerdings den Kirschgarten abholzen lassen und Datschen darauf bauen, die er an Sommergäste vermieten will. Die Ranjewskaja (Cornelia Froboess) glaubt an die Verschonung ihres voller Kindheitserinnerungen steckenden Kirschgartens und hofft, mit dem Kirschgarten nach ihren Pariser Jahren dort wieder eine Heimat zu finden.
Lion Feuchtwanger schrieb über das Stück: »Aber dieses handlungsarme Stück ist das Reichste und Reifste, Süßeste und Bitterste, Weiseste, was Tschechow je geschrieben. Diese Tragikomödie ist ganz einsam, es geht ein Lächeln durch sie, mild, sehnsüchtig und dennoch voll Hohn.« Von alledem ist leider in Thomas Langhoffs Inszenierung wenig zu spüren. Dazu trägt auch das karge Bühnenbild bei: Neon-Ringleuchten an der Decke und seitliche, von innen beleuchtete, bewegliche Bühnenbegrenzung und schäbige Sitzmöbel passen nicht zum Gutshaus. Der blühende Kirschgarten ist nur auf meinem Foto zu sehen.
Das Drama passt in unsere Zeit, in der ganze Staaten über ihre Verhältnisse leben und in den Bankrott rutschen. Nicht umsonst wird es zurzeit auf zahlreichen Bühnen gespielt. Das Geld ist weg, die Staaten sind hoch verschuldet, aber man will davon nichts wahrhaben. Für den Diener Firs ist die »neue Freiheit ein Unglück«; gut, das könnte ein Hinweis auf die Wiedervereinigung sein, aber eigentlich sind diese Aspekte für Langhoff nicht von Interesse. Als Zuschauer musste man sich diese Andeutungen selbst zusammendenken.
Liegt es an der Bearbeitung des Stückes durch Thomas Brasch, an Langhoffs Inszenierung oder an den Schauspielern, dass das Stück seltsam blutleer in Erinnerung bleibt und uns die Figuren nicht allzu nahe gingen? Warum man zum Beispiel Cornelia Froboess für die Hauptrolle verpflichtet hat, hat sich mir nicht erschlossen: Sie füllt die zentrale Figur der Gutsbesitzerin nur unvollkommen aus. Wer einmal die Inszenierung von Peter Stein an der Berliner Schaubühne gesehen hat, wird ohnehin alle weiteren Inszenierungen daran messen und sie alle werden es schwer haben.
Zwei Schauspieler kann man aber herausstellen: Jürgen Holtz, der den stummen Diener Firs verkörpert und Robert Gallinowski in seiner Rolle als Unternehmer Lopachin. Nach dem Aufbruch der ehemaligen Gutsbewohner bleibt der greise Diener Firs allein und vergessen im Haus zurück und Lopachin ist nicht nur der gefühllose Geschäftemacher, sondern traurig über die Tragik des Lebens, die den einen nach oben zieht, den anderen zu Boden wirft. Den gesamten Text des Drames finden Sie übrigens im »Projekt Gutenberg«.