Jenseits der Touristenpfade – Eine Reise durch die USA

Von Friedhelm Denkeler,

Joel Sternfeld – Pionier der künstlerischen Farbfotografie.

Die Ausstellung bei C|O zeigt, dass Joel Sternfeld (*1944), neben William Eggleston und Stephen Shore, zu Recht zu den Big Three der amerikanischen Farbfotografen zählt. Da die Ausstellung nur bis zum 13. Januar zu sehen ist, empfehle ich unbedingt noch einen Besuch der Galerie. Die Drei gehören zu den Vertretern der New Color Photography, die seit den 1970er Jahren Farbe in der künstlerischen Fotografie einsetzen. Die Bilder der klassischen Kunstfotografie waren bis dahin eher schwarz-weiß. In der populären Fotografie für Mode und Werbung und auch in der Amateurfotografie war Farbe natürlich schon länger angesagt.

Die Retrospektive zeigt die wichtigsten abgeschlossenen Projekte von Sternfeld. Sie beginnt mit Nags Head, North Caroline“ (1976). Ohne Farbe würden diese Bilder nicht funktionieren (so wie auch auf meinem Foto). In zwei weiteren Frühwerken Happy anniversara Sweeetie Face! (1970-1978) und Rush Hour (1976) arbeitet Sternfeld in der Tradition der Street Photography. Mit diesen Bildern habe ich Sternfeld in den späten 1970er Jahren kennen und schätzen gelernt.

In der Serie Stranger Passing (1987-2000) hat Sternfeld das menschliche Porträt in den Mittelpunkt gestellt. Aber im Gegensatz zu dem legendären August Sander zeigt er die Menschen nicht ihrer beruflichen Situation untergeordnet, sondern in ihren oft skurrilen (Selbst)-Inszenierungen. In der Summe ergeben sie ein Porträt der amerikanischen Gesellschaft. Während einer mehrjährigen Reise mit einem VW-Bus entstand die Serie American Prospects (1978-1986), in der er die Beziehung zwischen den Menschen und der Umgebung zeigt. Im Gegensatz zu den frühen Aufnahmen entstanden diese mit einer Großbildkamera. Die Fotos sind dementsprechend groß abgezogen und man muss sie auch so sehen und genießen.

Im Oxbow Archiv (2005-2007) sind Landschaften in der Einzigartigkeit der Jahreszeiten zu erleben; sie zeigen aber auch die Narben der Zerstörung. In On This Site (1993-1996) werden Schauplätze von Verbrechen abgelichtet. Die Verbrechen selbst werden nicht dargestellt, aber Texte erläutern sie. In Walking the High Line“ (2000-2001) zeigt Sternfeld eine stillgelegte zwei Kilometer lange Hochbahnstrecke mitten in Manhattan, die von der Natur zurückerobert wurde.

Aufkommende Emotionen

Von Friedhelm Denkeler,

»Bei aufkommende Emotionen bitte hier streicheln«, H. P. Adamski, Hackische Höfe, Berlin-Mitte, Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Bei aufkommende Emotionen bitte hier streicheln«, H. P. Adamski, Hackische Höfe, Berlin-Mitte, Foto © Friedhelm Denkeler 2012
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Von der Mitte in den Westen

Von Friedhelm Denkeler,

Ein Weihnachtsgeschenk für C|O – Die Fotogalerie zieht ins Amerika-Haus

In den Song Go West, den die Pet Shop Boys auf der Silvester-Party 2012 am Brandenburger Tor ganz sicher spielen werden, werden die Macher von C|O Berlin zweifellos mit einstimmen. Endlich hat Stephan Erfurt, der Direktor und Mitgründer des Ausstellungshauses für Fotografie, kurz vor den Weihnachtstagen ein neues Domizil gefunden: Das Amerika-Haus in der Hardenbergstraße, direkt am Bahnhof Zoo. Es ist sicherlich kein selbstloses Geschenk des Berliner Senats (Berliner Immobilien-Management GmbH) an das Fotografie-Forum, aber über die Höhe der Miete des auf 16 Jahre geschlossenen Mietvertrages wurde Stillschweigen vereinbart.

"Vom Demonstrationsziel 1968 zum Standort für Fotografie 2013 – Das Amerika-Haus", Foto © Friedhelm Denkeler 2008
»Vom Demonstrationsziel 1968 zum Standort für Fotografie 2013 – Das Amerika-Haus«, Foto © Friedhelm Denkeler 2008

So entsteht in der Nähe des Museums für Fotografie/der Newton Foundation (Jebensstraße), der Galerie Camera Work (Kantstraße), der Universität der Künste (Hardenbergstraße), ein einzigartiger Kultur-Cluster für fotografische Ausstellungen und Veranstaltungen. Der Einzug und die Eröffnung von C|O im Amerika-Haus mit einer Ausstellungsfläche von 2.000 Quadratmetern (ähnlich wie im bisherigen Postfuhramt) ist nach der Sanierung des denkmalgeschützten Amerika-Hauses für den Herbst 2013 geplant.

Eigentlich wollte man in Mitte bleiben, aber ein dauerhafter Verbleib im Postfuhramt war nicht möglich. Zwei Jahre hat C|O gesucht und jetzt die neue Bleibe gefunden. Zum Schluss wollte man in die Atelierhäuser in den Monbijoupark ziehen. Aber der Bezirk Mitte, dem C|O gerne treu geblieben wäre, machte Schwierigkeiten. Dagegen sind sie in Charlottenburg hoch willkommen: Die Zoogegend wird damit, neben dem neuen Waldorf-Astoria, auch kulturell aufgewertet.

In Skyfall rettet Bond nicht die Welt, sondern sein Leben

Von Friedhelm Denkeler,

Wir machen eine Reise zurück in die Zeit, dahin, wo wir noch im Vorteil waren.

Nach 50 Jahren und nun zum 23. Mal bekommt der langlebigste Geheimagent der Filmgeschichte – James Bond – jetzt mit Skyfall ein Denkmal gesetzt und das ist insbesondere Daniel Craig zu verdanken. Bond muss sich in jedem neuen Film neu erfinden. Das ist 2012 vorzüglich gelungen: Neben den vielen Anspielungen an frühere Bondfilme spielt auch die Rückkehr zu den (neuen) alten Wurzeln eine große Rolle.

Skyfall ist eine Mischung aus Western (spielend in Schottland) und »Kevin – Allein zu Haus«, eine Anspielung auf Wilhelm Tell und »The Dark Knight«. Regisseur Sam Mendes hat einen der besten Bonds der Geschichte geschaffen und Daniel Craig ist die perfekte Besetzung (gleich nach Sean Connery): Er ist nicht mehr so aalglatt, es geht auch einmal etwas schief, und er muss eine Menge einstecken. Außerdem gibt einen wunderbaren Soundtrack (zum Titelsong siehe „This Is The End – Adele’s Skyfall„) und der Film hält die Spannung auch ohne chaotische, hektische Schnittsequenzen.

Mit Skyfall ist Bond thematisch im 21. Jahrhundert angekommen, ohne seine Wurzeln zu verraten – der Agent im Dienste Ihrer Majestät ist menschlich verwundbar und nahbarer denn je wieder angetreten, sich selbst zu finden – und dabei den Untergang immer im Nacken zu spüren. Brillant! [Cyberbloc].

Worum geht es in dem Film? Das ist nicht so wichtig, das kann man bei Wikipedia nachlesen. Langjährige Weggefährten und Stereotypen möchte ich kurz vorstellen. Die mittlerweile 77-jährige Judi Dench, die aufgrund ihres Alters im realen Leben unter Sehverlust leidet, dürfte ihren letzten Auftritt als Geheimdienstchefin M gespielt haben. Ihre Vergangenheit hat sie eingeholt: Sie stirbt im Kugelhagel in Bonds Elternhaus in den schottischen Highlands. Als ihr Nachfolger wird Gareth Mallory (Ralph Fiennes) eingeführt.

"Skyfall am Potsdamer Platz", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Skyfall am Potsdamer Platz«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Auch die Ära der nicht mehr zeitgemäßen Bond-Girls scheint zu Ende zu sein. Sie tauchen nur kurz auf: Naomie Harris als Eve und Berenice Marlohe als Sévérine. Eve tauscht auf Anraten von Bond ihren Außendienst gegen einen Bürojob aus und wird die neue Miss Moneypenny.

Der neue, sehr junge Quartiermeister Q (Ben Wishaw), der Bond mit den Worten »Ich kann im Pyjama an meinem Laptop noch vor der ersten Tasse Tee mehr Unheil anrichten, als Sie je verhindert haben« begrüßt, läutet ebenfalls eine neue Ära ein. Ein Wandel der zukünftigen Bond-Filme deutet sich an. Von den früheren spektakulären Spezialwaffen scheint Q wenig zu halten: Bond erhält lediglich einen Sender und eine Pistole, die allerdings speziell auf ihn programmiert ist.

Und natürlich ist auch der neue Bösewicht Raoul Silva zu erwähnen, vorzüglich gespielt von Javier Bardem, ein König der Hacker, der in einer verlassenen Trümmer-Stadt auf einer Insel mit Hightech residiert und von Bond mit »Last rat standing« begrüßt wird. Gedreht wurden diese Aufnahmen übrigens auf der japanischen Insel Hashima, von der aus bis 1974 unterseeischer Kohleabbau betrieben wurde.

Autos spielen in jedem Bond-Film eine wichtige Rolle. In Goldfinger erhielt Bond seinen legendären Dienstwagen, einen Aston Martin DB5, der in Skyfall nun wieder aus einer Scheune hervorgeholt wird und zu alter Stärke aufläuft.

Mit dem DB5 flüchtet Bond mit M in seine alte Heimat, ein einsames Herrenhaus namens Skyfall, das in den schottischen Highlands liegt. Das Haus wird mit Sprengfallen und Fluchtwegen präpariert und man denkt unwillkürlich an »Kevin – Allein zu Haus«. Hier findet »Zwölf Uhr Nachts« der High Noon zwischen Bonds Verteidigung und Silvas Hubschrauberangriff, unter dem stampfenden Rhythmus von John Lee Hookers »Boom Boom« (man denkt unwillkürlich an »Apocalypse Now«), statt.

Nicht berichten werde ich über den fantastischen Vorspann mit den tollen Grafiken; nicht über die Verfolgungsjagd über den Dächern des Großen Bazars in Istanbul; nicht über den Kampf auf einem fahrenden Zug, der einen Bagger und viele Kleinwagen geladen hat; nicht wie ein Audi, verfolgt von Bond in einem Landrover, durch die vollen Gassen von Istanbul rast; nicht wie Bond als Wilhelm Tell auf den Drink auf Sévérines Kopf zielen muss und nicht wie das Hauptquartier des MI6 in die Luft fliegt.

Mendes hat an Ironie, Verbeugungen und Dialektik aufgefahren, was in einen Film passt, und Roger Deakins hat dazu Bilder geschaffen, die manchmal flach und überscharf sind wie ein Computerscreen, dann wieder pastell getönt und in die Tiefe gestaffelt wie im Western. Oft steht Bond im Anzug am Rand dieser Bilder, breitbeinig, still, ikonisch. Am Ende, wenn er über London blickt, das verblüffenderweise immer noch steht, trägt er einen Mantel. Ein Verlorener, der friert. [FAZ]

Das Heilige, das Rotlichtviertel und eine Nacht in Schwarz-Weiß

Von Friedhelm Denkeler,

Jerry Berndt mit »Sacred/Profane« im Haus am Kleistpark.

Ich bin der Mann der Negative, aber ich mache Positive! [Jerry Berndt]

Foto © Friedhelm Denkeler 2010
Foto © Friedhelm Denkeler 2010

Der offizielle Titel der Ausstellung Sacred/Profane suggeriert, dass der US-Amerikaner Jerry Berndt (*1943), der jetzt in Paris lebt, hauptsächlich zwei Themenkomplexe in der Ausstellung im Haus am Kleistpark zeigt. Die, für mein Empfinden, schöneren und gefühlvolleren und in einem perfekten Sound abgezogenen Fotos, sind gleich im ersten Raum zu sehen: Nite Works“ (auch Nite Side genannt). Seit vierzig Jahren fotografiert Berndt in der Morgendämmerung menschenleere Stadträume. Die abgebildeten Objekte, Gebäudeteile, Straßenzüge zeigen mehr oder weniger ihre Geheimnisse und Beziehungen zueinander.

Interessanter sind aber die Empfindungen, die Berndt mit den Nite Works dem Betrachter übermittelt. Beschreibbar sind sie nicht, man muss sie sehen: der Fotograf bei der Aufnahme und der Besucher beim Betrachten. Hier trifft die Aussage: »Das wirksamste Element im Kunstwerk ist nicht selten das Schweigen« von Susan Sontag besonders zu. Allein diese neueren Werke (1973-2012) lohnen den Besuch der Ausstellung.

Auch in der Serie Combat Zone (1967-1974) herrscht meistens Dunkelheit: Wir sehen Zuhälter, Prostituierte und Transvestiten im Rotlichtbezirk von Boston. Das erste Foto der Serie mit einem Amusement-Center nimmt den Inhalt der folgenden Fotos bereits vorweg. Berndt geht über einen journalistischen/ dokumentarischen Blick hinaus auf die Einsamkeit und auch das Miteinander der Menschen an diesem Ort. Die im dritten Raum ausgestellten Bilder Sacred (1980-2003)) zeigen eine ähnliche Sehnsuchtswelt der Gläubigen und Bekehrer in ihrem spirituellen Habitus, ihrer Ekstase, Hingabe und Einkehr.

Zur Finissage der Ausstellung gibt es am Sonntag, 16. Dezember, 16 Uhr, eine Künstlerführung durch Jerry Berndt und so kann man sich selbst ein Bild über das Spannungsfeld zwischen den Huren, dem Heiligen und der Nacht machen und einmal mehr einen neuen Fotografen entdecken, den bisher kaum Jemand kannte. www.hausamkleistpark.deAuswahl von Berndts Fotos über Google

Fotografie, das ist nichts!

Von Friedhelm Denkeler,

»Fotografie, das ist nichts! Was mich einzig interessiert, ist das Leben«, Henri Cartier-Bresson, Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Fotografie, das ist nichts! Was mich einzig interessiert, ist das Leben«, Henri Cartier-Bresson, Foto © Friedhelm Denkeler 2012
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This Is The End – Adele’s Skyfall

Von Friedhelm Denkeler,

Das ist das Ende. Halte den Atem an und zähle bis zehn

This is the end/ Hold your breath and count to ten/ Feel the earth move and then/ Hear my heart burst again/ For this is the end [aus ‚Skyfall‘]

"Skyfall am Beisheim-Center (Potsdamer Platz)", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Skyfall am Beisheim-Center«, Potsdamer Platz, Berlin, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Fünfzig Jahre nach dem ersten James Bond-Film James Bond jagt Dr. No läuft zur Zeit der 23. Bond-Film in den Kinos und jedes Mal gab es einen Titelsong: Shirley Bassey mit Goldfinger (1964), Tom Jones mit Thunderball (1965), Nancy Sinatra mit You Only Live Twice (1967), Shirley Bassey mit Diamonds Are Forever (1971), Paul McCartney & Wings mit Live and Let Die (1973), Sheena Easton mit For Your Eyes Only (1981), Tina Turner mit Golden Eye(1995), Madonna mit Die Another Day (2002), um nur die wichtigsten zu nennen.

Seit Wochen steht nun der Titel-Song des neuen James Bond-Films Skyfall auf den vorderen Plätzen der Charts. Den Film habe ich immer noch nicht gesehen, dafür liebe ich aber bereits den Song mit der neuen klassischen Bond-Melodie und Adele´s wundervoller Stimme. Adele: »Skyfall«.

Der Song erinnert an die früheren großen Bond-Songs der sechziger und siebziger Jahre; an Shirley Basseys Goldfinger, der zum Gradmesser aller Bond-Songs geworden ist, reicht er nahe heran. Er beginnt mit einem erbebenden Intro (ähnlich wie in Goldfinger) und einem zurückhaltenden Piano bis er sich langsam zum vollen Orchestersound erhöht. Ich glaube, der Song hat die Qualität, in die Geschichte der Film-Songs einzugehen.

Das James Bond Theme, das auch in Skyfall herauszuhören ist, wurde in vielen Bond-Filmen in immer wieder anderen Versionen verwendet. Dieses Ursprungsarrangement von John Barry ist nunmehr 50 Jahre alt und wurde zum akustischen Synonym für die Bond-Figur. Man schätzt, dass die Hälfte der Weltbevölkerung einen Bond gesehen und das praktisch alle davon diese Melodie kennen. Sollte jemand unter meinen Lesern das Theme wider Erwarten noch nicht kennen, hier ist es.

Oh Boy – A Day In The Life in Berlin

Von Friedhelm Denkeler,

Alles Bio oder was? Ein urbanes Kammerspiel vom Praktikanten des Regisseurs von »Good Bye, Lenin!«

Bist ’n einsamer Wolf wa! Ich weiß gar nicht, wovon die überhaupt reden! [Michael Gwisdek in »Oh Boy«]

Der Debütfilm »Oh Boy« von Jan Ole Gerster lässt uns einen »Day In The Life« von Niko, einem Endzwanziger in Berlin miterleben. Eine Paraderolle für Tom Schilling. Die Melancholie des Films, nicht nur wegen der schwarz-weißen-Bilder, deutet sich bereits im Titel an: Ein Zitat aus dem Beatles-Song »A Day In The Life«.

Niko ist wenig aktiv, sein Jurastudium hat er abgebrochen, aber ihm geschieht so einiges in der Metropole innerhalb von 24 Stunden: Der Geldautomat behält die Karte ein, der Vater streicht ihm die Unterstützung, der Nachbar wird mit den Hackfleischbällchen seiner Frau aufdringlich, Niko fällt beim Idiotentest durch, er muss vor den Controletties der BVG flüchten und es scheint in der ganzen Stadt keinen normalen Filterkaffee mehr zu geben – insbesondere nicht bei der schwäbelnden Bio-Latte-Macchiato-Verkäuferin.

"Oh Boy", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Oh Boy«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Das alles führt zu einem Stimmungsbild von Berlin, das ich bisher so fantastisch noch nicht im Film gesehen habe. Eigentlich ein Anti-Portrait, das sich wohltuend entfernt von dem aktuellen Hype um die Start-Up-Unternehmen und dem permanten gut-drauf-sein. Der Trailer gibt das nur unzureichend wieder; er zeigt mehr die komische Seite des Films. Die eigenwillige Filmsprache des Kameramanns zeigt in einer klassischen Ästhetik, erstaunlich für einen Debütfilm, die Straßen- und Menschenbilder der Metropole Berlin, in der man für wenig Geld in den Tag hineinleben und von Projekten und Terminen träumen kann.

Neben Tom Schilling spielt Berlin ebenso eine Hauptrolle. Die Frankfurter Rundschau schreibt in ihrem Fazit »Und noch einen Klassiker müssen wir nennen: Walter Ruttmanns «Berlin – Die Sinfonie der Großstadt« hat nun einen Nachfolger! Was wurde dieser Klassiker bei seiner Premiere 1927 nicht kritisiert, weil ihm angeblich die Menschen fehlten. Nun, hier sind sie. Etwas spät vielleicht. Aber es ist ja nie zu spät für ein Generationenporträt, das für ein Gefühl von heute in der Zeitlosigkeit die rechten Bilder findet.«

Jan-Ole Gerster hat als Produktionsassistent bei »Good Bye, Lenin!« von Wolfgang Becker angefangen, deshalb wollte er auch zuerst auf die Filmplakaten drucken lassen »Vom Praktikanten des Regisseurs von Good Bye, Lenin!« Übrigens: Zum Schluss des Films findet Niko in einem Krankenhaus einen Kaffeeautomaten, der die Taste »Schwarzer Kaffee« besitzt – irgendwie ein versöhnliches Ende und nicht nur deshalb ein sehenswerter Film.

Kennst du das, wenn man das Gefühl hat, dass die Menschen um einen herum irgendwie merkwürdig sind, aber wenn du länger darüber nachdenkst, wird dir klar, dass nicht die anderen, sondern dass du selbst das Problem bist. [Niko in »Oh Boy«]

Pariser Platz bei Nacht

Von Friedhelm Denkeler,

»Pariser Platz mit Brandenbuger Tor«, Berlin, aus dem Portfolio und Künstlerbuch »Sonntagsbilder«, Foto © Friedhelm Denkeler 2007
»Pariser Platz mit Brandenbuger Tor«, Berlin, aus dem Portfolio und Künstlerbuch »Sonntagsbilder«, Foto © Friedhelm Denkeler 2007

Was die Löwengruppe im Tiergarten und der neue Flughafen in Schönefeld nicht gemeinsam haben

Von Friedhelm Denkeler,

"Vorzeitiger Fertigstellungstermin", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Vorzeitiger Fertigstellungstermin«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Der Fertigstellungstermin des neuen Flughafens in Schönefeld ist in weite Ferne gerückt. Neuerdings spricht man davon, dass auch der Termin im Oktober 2013 nicht zu halten ist. Dagegen ist das Bezirksamt Mitte von Berlin von der schnellen Truppe. Kaum ist die Löwengruppe im Tiergarten in der Nähe des Brandenburger Tores im Oktober 2012 zur Restaurierung abtransportiert worden, wird sie im März 2012, also sieben Monate vorzeitig, fertig restauriert wieder aufgestellt.

Toll, was in Berlin so alles möglich ist. Gefunden auf dem sonntäglichen Herbstspaziergang im Tiergarten. Die Löwengruppe ist eine Bronzeplastik von Wilhelm Wolff und stellt eine von einem Pfeil getroffene Löwin dar, die sterbend am Boden liegt, flankiert von einem hochaufgerichteten zornigen männlichen Löwen und zwei Löwenjungen. Sie wurde im Jahr 1878 aufgestellt.

»9. November 1989 – Berlin, nun freue dich«

Von Friedhelm Denkeler,

Das Zitat des Jahres 1989: »Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich …«

… so Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros des ZK der SED, am 9. November 1989 auf die Frage eines Journalisten, ab wann die neue Reiseregelung in Kraft trete. Und kurze Zeit später war ich am Grenzübergang Sonnenallee, um die endlose Trabbi-Karawane, die sich aus dem Ost-Sektor kommend die ganze Nacht Richtung Westen wälzte (und später auch wieder zurück) zu fotografieren. Am 12. November 1989 wurden die Betonelemente der Mauer am Potsdamer Platz entfernt und ein provisorischer Übergang geschaffen und zum 23. November 1989 erfolgte die Öffnung am Brandenburger Tor/ Pariser Platz. Auch diese beiden Ereignisse habe ich fotografisch festgehalten.

»9. November 1989, Berlin«, Erstes Kapitel: 23 Uhr, Grenzübergang Sonnenallee, Foto © Friedhelm Denkeler 1989
»9. November 1989, Berlin«, Erstes Kapitel: 23 Uhr, Grenzübergang Sonnenallee, Foto © Friedhelm Denkeler 1989

Das Portfolio »9. November 1989 – Berlin, nun freue dich« besteht aus 53 Photographien auf Fotopapier im Format 30×45 cm, im Passepartout 50×60. Alle Aufnahmen entstanden im November und Dezember 1989 in Berlin. Die Bilder sind auch als gedrucktes Autorenbuch mit 84 Seiten im Format 27 x 20,5 cm erschienen. Portfolio und Buch wurden anlässlich der 20. Wiederkehr der Maueröffnung im Jahr 2009 neu zusammengestellt. Eine Auswahl der Fotografien finden Sie auf meiner Website unter 9. November 1989 – Berlin, nun freue dich.

Berlin, nun freue dich! [Walter Momper, Regierender Bürgermeister von Berlin, am 23.12.1989 anlässlich der Öffnung der Mauer am Brandenburger Tor]

Zeitlos schön – Some Like It Haute

Von Friedhelm Denkeler,

100 Jahre Modefotografie von Man Ray bis Mario Testino bei C/O.

"Vogue", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
„Vogue“, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Auf den letzten Drücker, noch eine Empfehlung für den Besuch der Fotoausstellung »Zeitlos schön« im Rahmen des Monats der Fotografie in der Berliner C/O-Galerie im Postfuhramt. Die Ausstellung geht am Sonntag, den 4. November 2012 zu Ende.

Für diese Ausstellung hat der Condé Nast Verlag, der Magazine wie «Vogue» und „Vanity Fair“ herausgibt, seine Archive in New York, Paris, London und Mailand geöffnet. Innerhalb von 50 Tagen hat die Fotoschau mehr als 35 000 Besuchern angezogen und ist damit eine der erfolgreichsten Ausstellungen im 12-jährigen Bestehen des privaten internationalen Fotografie-Forums in Berlin.

150 Vintage-Prints sowie originale Magazine, die noch nie zuvor präsentiert wurden – von seltenen Fotografien der Anfänge bis hin zu spektakulären zeitgenössischen Werken unter anderem von Edward Steichen, George Hoyningen-Huene, Erwin Blumenfeld, Irving Penn, Helmut Newton, Peter Lindbergh, Mario Testino, Cecil Beaton, Man Ray, Diane Arbus, Horst P. Horst, George Platt Lynes, Lee Miller, Sarah Moon, William Klein, Sarah Moon, Herb Ritts, Terry Richardson und Bruce Weber sind zu sehen.

Ist Modefotografie Kunst oder ist sie es nicht? Vieles spricht dafür, dass sie es nicht ist: Es handelt sich in der Regel um Auftragsarbeiten, es geht darum, Kleider zu verkaufen, die Bilder werden unter kommerziellen Gesichtspunkten komponiert. Und doch, wenn man die mehr als 150 Modefotografien in der Ausstellung „Zeitlos schön“ betrachtet, so hat man das Gefühl durch eine Kunstausstellung zu wandeln, eine soziologisch und historisch hochinteressante obendrein. [rbb Kultur]

Ein Leben unter dem Glaskubus

Von Friedhelm Denkeler,

Neben Martina Gedeck spielen in »Die Wand« die Natur und Luchs von Kyffhäusersbach die weiteren Hauptrollen

Von Männern ausgeheckte Apokalypsen kennen wir zur Genüge. Mit denen können wir umgehen, die können wir längst schon als Genre abtun. Diese weibliche Apokalypse ist anders. Sie verstört ganz ungewohnt. Und wirkt noch lange nach. [Berliner Morgenpost]

Eine Frau (Martina Gedeck) sitzt in einer einsamen Jagdhütte auf den Bergen fest: Ihre unmittelbare Umgebung ist durch eine unsichtbare Wand von der Außenwelt abgeschnitten. Die Wand ist durchsichtig, aber es ist nichts zu sehen, sie spiegelt auch nichts wieder, lediglich bei Annäherung erfolgt ein dumpfes Dröhnen. Ein Hund namens Luchs, der ihren Freunden gehört, die sich zu einem Ausflug verabschiedet haben, rennt gegen die Wand; dann versucht es die Frau selbst; auch der Versuch mit dem Auto durchzukommen scheitert – es bleibt schwer beschädigt liegen.

Hinter der Wand scheint alles Leben eingefroren zu sein. Der Städterin bleibt nichts anders übrig, als sich mit der Situation zu arrangieren. Eine Kuh und eine Katze werden neben Luchs, dem Hund, zu ihren Leidensgenossen. Die Frau pflanzt Kartoffeln, sammelt Früchte des Waldes, lernt mit dem Gewehr auf Jagd zu gehen um zu überleben. Im dritten Jahr schreibt sie ihre Geschichte auf, bis das Papier zu Ende ist.

»Selbst im Kleingarten«, Foto © Friedhelm Denkeler 2011
»Selbst im Kleingarten«, Foto © Friedhelm Denkeler 2011

Aus dem Off erzählt die Frau ihre Gedanken, aber eigentlich ist das nicht notwendig, denn Martina Gedecks »Gesicht schreibt seinen eigenen Text« (FAZ). Es bildet die innere Verfassung der Protagonistin, den seelischen Ausnahmezustand, gut ab. Obwohl die Welt nicht mehr existiert, arbeitet sie weiter um zu leben: Sie mäht Heu, versorgt ihre Tiere, zieht im Sommer mit ihnen auf die Alm, hackt Holz für den Winter und geht auf die Jagd. Das Leben unter dem Glaskubus geht, auch nach einer weiteren Katastrophe, weiter.

Der Film, der auf dem gleichnamigen Roman der österreichischen Schriftstellerin Marlen Haushofer aus dem Jahr 1963 beruht, lief bereits unter großem Beifall im diesjährigen Berlinale-Programm »Panorama«. Der österreichische Regisseur Julian Pölsler schaffte sich den Hund, einen sogenannten Bayerischen Gebirgsschweißhund, für die Verfilmung an und trainierte ihn persönlich. Eindrucksvolle Landschaftsaufnahmen, ein Alpenpanorama wie es im Buche steht, ein betörender Sternenhimmel und alle vier Jahreszeiten in eindrucksvollem Cinemascope. Ein Film, der vordergründig eine Hommage an die unberührte Natur zu sein scheint, wird durch Martina Gedeck zu einem Drama, das einem fast den Atem raubt. Sehenswert!

Ich habe die Wand immer als Rettung gesehen. Die Wand ist kein schönes Ereignis, aber es hilft der Frau, zum Leben zurück zu kommen und das ist notwendig, weil sie vorher nicht glücklich war. Die Wand steht für mich für eine tiefe Krise, ein Depression, eine Krankheit oder ähnliches – also auch für eine Chance, sich auf das Wesentliche zu besinnen, neue Prioritäten zu setzen und eine neue Lebendigkeit zu finden. [Martina Gedeck]

Von der Punkpoetin zur Chefin einer Rock ‘n’ Roll-Band: Patti Smith mit »Gloria«

Von Friedhelm Denkeler,

Die Geschichte einer Freundschaft mit Robert Mapplethorpe

Jesus died for somebody’s sins but not mine/ Meltin‘ in a pot of thieves/ Wild card up my sleeve/ Thick heart of stone/ My sins my own/ They belong to me, me  [aus: Patti Smith »Gloria«]

"Anruf von Patti", Polaroid SX-70, Foto © Friedhelm Denkeler 1988
»Anruf von Patti«, Polaroid SX-70, Foto © Friedhelm Denkeler 1988

Es war einmal im Summer of Love 1967, in dem eine zehn Jahre währende, tragische Liebesgeschichte zwischen Rock und Kunst beginnen sollte: Die damals 21jährige Patti traf den gleichaltrigen Robert in New York und beide wollten Künstler werden.

Bald zogen sie zusammen; lebten mehr schlecht als recht von ihren Gelegenheitsjobs. Ins Kunst-Museum ging jeweils nur einer von beiden; zwei Eintrittskarten konnten sie sich nicht leisten, nach dem Besuch beschrieben sie sich gegenseitig die gesehenen Ausstellungsstücke.

Abends und nachts dichtete Patti, beeinflusst von der Beat-Genration, ihre wilde Punk-Prosa und Robert bastelte an seinen Collagen. Im März 1968 sahen sie gemeinsam das Doors-Konzert im Fillmore East, in dem Robert als Kartenabreißer jobbte. Patti beobachtete Jim Morrisson ganz genau und in ihr setzte sich der Gedanke fest »Das kann ich auch«.

Zehn Jahre später war Patti Smith ein berühmter Rock ’n‘ Roll-Star und Robert Mapplethorpe ein berühmter Fotograf. Im September 1975 nahm Patti Smith mit ihrer Band ihr erstes Album »Horses« im Electric-Lady-Studio von Jimi Hendrix auf. Es wurde zum Vorbild der englischen und amerikanischen Punk- und New Wave-Bewegung. Herausgesucht habe ich den folgenden, von Van Morrisson geschriebenen Song: Patti Smith: »Gloria«.

Es ist eine Aufzeichnung der Rockpalast-Nacht vom 22. April 1979. Wie jedes Mal, wenn der Rockpalast vom WDR aus Essen übertragen wurde, sahen wir im Freundeskreis, ich glaube es war bereits spät nach Mitternacht, den Auftritt von Patti Smith und ihrer Band. Es war eine reichlich chaotische Darbietung. Deshalb habe ich noch zwei weitere Videos herausgesucht: Patti Smith mit Gloria 1976Patti Smith in der Jools Holland Show 2007.

  • Cover: Das Cover zu Horses wurde mit einem S/W-Foto von Patti Smith, fotografiert von Robert Mapplethorpe, gestaltet.
  • Bedeutung: Die Rockzeitschrift Rolling Stone führt das Album Horses in ihren 500 Greatest Albums of All Time auf Platz 44. 2007 wurde Patti Smith in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen. Für ihre schriftstellerischen Arbeiten erhielt sie 2010 den National book Award, den wichtigsten amerikanischen Buchpreis.
  • Literatur: Patti Smith Just Kids – Die Geschichte einer Freundschaft, 2010
  • Album:Horses, 1975; Erste Seite: 1. Gloria: In Excelsis (Smith), Gloria (Van Morrisson), 2. Redondo Beach (Smith, Sohl, Kaye), 3. Birdland (Smith, Sohl, Kaye, Kral), 4. Free Money (Smith, Kaye); Zweite Seite: 1. Kimberly (smith, Lanier, Kral), 2. Break It Up (Smith, Tom Verlaine), 3. Land: Horses (Smith), Land of Thousend Dances (Chris Kenner), La Mer(de) (Smith), 4. Elegie (Smith, Lanier).
  • Besetzung: Patti Smith (Gesang, Gitarre), Lenny Kaye (Gesang, Gitarre), Jay Dee Daugherty (Schlagzeug), Ivan Kral (Bass, Gitarre, Gesang), Richard Sohl (Keyboard).
  • Daten: Patti Smith: geb. 30.12.1946 in Chicago, Robert Mapplethorpe: geb. 04.11.1946, gest. 09.03.1986

Aber insgeheim wusste ich, dass ich völlig umgekrempelt war, bewegt von der Erkenntnis, dass Menschen Kunst hervorbringen, dass Künstler etwas sehen, was andere nicht sehen [aus: Patti Smith »Just Kids«, nach dem Besuch als Zwölfjährige im Museum of Art Philadelphia]

Wir schnitten unsere langen Röcke minikurz wie die von Vanessa Redgrave in Blow Up, und suchten in Second Hand-Läden nach Paletots, wie Oscar Wild und Baudelaire sie getragen haben [aus: Patti Smith »Just Kids«]

Der Blick der Anderen

Von Friedhelm Denkeler,

Frühe Porträtfotografie und aktuelle Straßenfotografie aus Indien.

Seit den ersten Tagen der Kalotypie setzte der eigenartige Dreifuß mit seiner geheimnisvollen Kammer und seinem Messingmund die Einwohner dieses Landes davon in Kenntnis, dass ihre Eroberer auch andere Instrumente als die prächtigen Kanonen ihrer Artillerie erfunden haben, Instrumente, deren Erscheinungsbild vielleicht nicht minder verdächtig anmutete, die ihr Ziel jedoch mit weniger Lärm und Rauch erreichten [Samuel Bourne]

"Selbst im kolonialen Auge", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Selbst im kolonialen Auge«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Das Thema des 5. Europäischen Monats der Fotografie Berlin »Der Blick des Anderen« passt auf die beiden Ausstellungen, die ich am vergangenen Wochenende gesehen habe, sehr genau zu: Im Museum für Fotografie in der Jebensstraße sind noch bis zum 21.10.2012 an die 300 frühe Porträtfotografien aus Indien unter dem Titel »Das Koloniale Auge« zu sehen und in der Bürogemeinschaft KOMET/ Galerie in der Prinzen-straße, zeigt Dr. Carola Muysers »indianROAD«, aktuelle Fotografien aus Indien von Beate Spitzmüller (siehe hier).

Das Koloniale Auge: Der verbindende Aspekt dieser Porträts aus den Anfängen der Fotografie ist der spezifisch europäische Blick. Die Bewohner sollten im Auftrag von Kolonialherren, Missionaren, Ethnologen und Händlern inventarisiert und vermessen werden. Die Fotos sind in die Rubriken Adel, Jenseits des Adels, Sadhus (=Entsager), Kasten, Berufe und Adivasi (= Ureinwohner) unterteilt. Wir als Besucher sehen nur, was Fotografen wie Samuel Bourne, Sheperd & Robertson und John Burke sehen wollten: die Pracht der Oberschicht, die Inventarisierung der einzelnen Kasten, die schmerzhaften Rituale der Asketen und die Ärmlichkeit der Ureinwohner. Die Ästhetik dieser fast 300 Fotos ist beeindruckend, den geschichtlichen Hintergrund aber sollte man dabei als Besucher nicht vergessen (Video zur Ausstellung).

indianROAD: Beate Spitzmüller hat ihre großen Farbfotografien vom bunten Treiben in den indischen Städten geschickt mit kleineren Schwarz/Weiß-Aufnahmen schlafender Menschen auf öffentlichen Straßen und Plätzen kombiniert. Sie ist durch Indien gereist, nicht als Ethnographin, sondern eher als teilnehmende Beobachterin, die sich ungezwungen und mit vorurteilsfreiem Blick im Land bewegt. Ihre farbigen Arbeiten zeigen oftmals im Hintergrund überdimensionierte, bunte Reklametafeln vor denen die Menschen eher klein wirken und erinnern ästhetisch an sogenannte »Bollywood-Filme«. Die Ablichtungen schlafender Menschen bilden schon rein farblich einen starken Kontrast hierzu und obwohl eine für europäische Verhältnisse sehr intime Szene wiedergegeben wird, sind ihre Arbeiten niemals voyeuristisch.

Das unerbittliche Verfließen der Zeit

Von Friedhelm Denkeler,

Sofortbilder von Ursula Kelm im Hotel Bogota, Schlüterstraße in Berlin.

"Schwarze Maske", Polaroid SX-70", Foto © Friedhelm Denkeler 1988
»Schwarze Maske«, Polaroid SX-70, Foto © Friedhelm Denkeler 1988

Bis zum 07.11.2012 sind im Rahmen des Monats der Fotografie auf dem PHOTOPLATZ im Kabinett des Hotels Bogota Ursula Kelms Sofortbilder zu sehen. Joachim Rissmann, der Propriétaire des Hotels Bogota, ließ es sich nicht nehmen, zur Vernissage alle Besucher persönlich zu begrüßen. Freundlicher kann eine Ausstellungseröffnung nicht beginnen.

Neben Kelms SX-Polaroid-Fotos sind insbesondere die sogenannten Transferbilder zu erwähnen, auf denen Kelm die Polaroids vom Trägerbild gelöst und auf Seidenpapier aufgebracht hat. Diese Technik unterstreicht das Piktorialistische in ihren Fotografien und alltägliche Stadtansichten werden so zu traumhaften Inszenierungen.

Elisabeth Moortgat schreibt zu Ursula Kelms Bildern: »Kelms Photographie thematisiert in immer anderen Tonlagen das Spiel von Dauer und Vergänglichkeit. Auf besondere Weise also ein memento mori, Teilnahme an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit, Wandelbarkeit von beidem, dem Menschen und der Natur, der Photographin selbst… Weil Photographien eben diesen einen Moment herausgreifen und erstarren lassen, ihn fixieren im doppelten Sinne des Wortes, bezeugt die Photographin einmal mehr das Verfließen der Zeit.«

In dem hochherrschaftlichen Altbau in der Schlüterstraße 45 befand sich über zwei Etagen das Atelier der Fotografin YVA (Elisabeth Neuländer), bei der Helmut Newton 1936 seine Fotolehre begann. »Sie schlafen in heiligen Räumen«, sagte er, als er im Jahr 2002 Berlin das letzte Mal besuchte und im Bogota übernachtete. Dieses Zitat ist inzwischen zum Leitspruch des Hauses geworden. Joachim Rissmann setzt in seinem Hotel die fotografische Tradition des Hauses fort: Seit 1994 veranstaltet er mit seinem Photoplatz in mehreren Räumen wechselnde Fotoausstellungen, um die Erinnerungen an die Geschichte des Hauses lebendig zu halten. www.ursula-kelm.de, www.bogota.de

Der Europäische Monat der Fotografie in Berlin

Von Friedhelm Denkeler,

Monat der Fotografie 2012 in Berlin (1)

Vom 19. Oktober bis zum 25. November 2012 findet der 5. Europäische Monat der Fotografie Berlin (EMoP) statt. Alle 100 Ausstellungen von über 500 Fotografen und an die 10.000 Bilder kann sich kein Mensch ansehen. Da gilt es den Überblick zu behalten; einige Highlights, aber auch kleinere Ausstellungen stehen auf meinem „Programm“:

Alle 100 Ausstellungen finden Sie auf der Website des „European Month of Photography – EMoP„. Das zentrale Festivalzentrum befindet sich während des Europäischen Monats der Fotografie Berlin im ehemaligen Kennedy-Museum direkt am Brandenburger Tor (Pariser Platz 4a).

»Optische Spiegelung« Binz, Rügen, Berlin, aus dem Portfolio »Schatten und Spiegel», Selbstbildnisse 1976 bis 2020, Foto © Friedhelm Denkeler 2007
»Optische Spiegelung« Binz, Rügen, Berlin, aus dem Portfolio »Schatten und Spiegel», Selbstbildnisse 1976 bis 2020, Foto © Friedhelm Denkeler 2007

Warum ist der Kopf rund?

Von Friedhelm Denkeler,

»Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann«, Francis Picabia, Foto/Grafik © Friedhelm Denkeler 2002
»Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann«, Francis Picabia, Foto/Grafik © Friedhelm Denkeler 2002
Anmerkung zur Kategorie »«

In dieser Kategorie erscheint am ersten Tag eines Monat öfter ein bildlich umgesetzter Post mit einem Zitat. Das kann eine Photographie mit einem Spruch sein oder ein Bild, das grafisch mit dem Zitat des Monats gestaltet wurde.

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Free Pussy Riot

Von Friedhelm Denkeler,

"Free Pussy Riot", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Free Pussy Riot«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit. [Friedrich Schiller]

Seit kurzem weht eine neue Fahne auf dem Dach des Berliner Ensembles. Drei Musikerinnen der russischen Punkband Pussy Riot und das nun leicht abgewandelte Zitat von Schiller Die Kunst ist die Tochter der Freiheit sind zu sehen – aber nur wenn der Wind günstig weht. Das Berliner Ensemble unter Intendant Claus Peymann ergreift damit Partei für die drei zurzeit inhaftierten Aktivistinnen.

Anfang des Jahres sprachen sie in der Hauptkirche der Russisch-Orthodoxen, der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau ein Gebet gegen den Patriarchen, der zur Wahl von Putin aufgerufen hatte und gegen Präsident Putin selbst. Sie wurden wegen Rowdytums und Anstiftung zu religiösem Hass zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt.

»Mit ihrer Überreaktion stellen sich die russisch-orthodoxe Kirche und der russische Staat, beide eng miteinander verzahnt, außerhalb der Standards europäischer Kulturtraditionen«, erklärte Klaus Staeck, Präsident der Akademie der Künste. Am 26. September 2012 wurde nun ein Gesetz in das russische Parlament eingebracht, das Gotteslästerung mit drei Jahren Haft bestrafen soll.

Anarchie der Bilder oder: Formal reduzierte Realität

Von Friedhelm Denkeler,

Die subtile Wirkungsmacht des Visuellen: Jörg Sasse mit »Common Places« und »Speicher II« in der C/O-Galerie in Berlin bis zum 28. Oktober 2012.

Was mich interessiert, ist der Punkt, an dem man meint, etwas erkannt zu haben, das sich im nächsten Moment jedoch wieder entzieht.“ [Jörg Sasse]
"Wanddetail im Postfuhramt", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Wanddetail im Postfuhramt«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Zum Ende des Besuchs der Ausstellung im Postfuhramt gab es noch eine Überraschung: Meine fachkundige Begleitung, mit geschultem Blick und gedanklich wohl noch in den Roman 8½ Millionen von Tom McCarthy versunken, entdeckte auf einer Fotografie die abblätternde Farbe von einer Wand, ging einige Meter zurück, zeigte auf genau eine Stelle im Ausstellungsraum, die dieselbe Struktur und Farbe aufwies, lief wieder zu dem Foto zurück und während im Roman der Riss in einer Wand eine wahre Lawine an Ereignissen auslöst, war es hier die Freude über eine Entdeckung, denn exakt diese Stelle hat Sasse 2012 fotografiert und in Block 8, P-12-02-01, Berlin mit ausgestellt.

Da das Fotografieren der Fotos in der Ausstellung verboten ist, habe ich genau diese Stelle an der Wand fotografiert, aber das entsprechende Foto sollten Sie nun selber in der sehenswerten Ausstellung finden.

110 Fotos von Gemeinplätzen (Commonplaces) wie Trophäen, Heizkörpern, Waschbecken, Treppenabsätzen, Polstersofas, Lamellenvorhängen, Topflappen, Plastiktieren, Küchenradios, Stoffen in schrillen Mustern hat Jörg Sasse zu zehn Blöcken, zu gemeinsamen Orten (= Common Places) zusammengefügt. Die Bilder sind streng seriell, wie wir es auch von vielen anderen Becher-Schülern kennen und sie passen ausgezeichnet in die ehemalige Bibliothek des Postfuhramtes, die zu DDR-Zeiten als Basketballhalle genutzt wurde und mit den abgetretenen Spielfeldmarkierungen einen maroden Charme hat.

C/O schreibt zu Sasses Arbeiten: »Die Bilder der Blöcke geben eine ästhetisch perfekte, formal reduzierte Realität wieder, die aber leichte Brüche aufweist. Bei genauerem Hinsehen entstehen Irritationen, die auf Widersprüchen zwischen Alltagserfahrung und -wahrnehmung basieren. Die Objekte und Situationen wirken in den Abbildungen fremd und gleichzeitig vertraut. Die kompositorische Stringenz und Abstraktion sowie flächig-hypnotische Farbigkeit verstärken diesen Effekt zusätzlich. So verhandeln die Abweichungen von der Realität Aspekte von Malerei, loten Farben aus und setzen Formen neu zusammen. Die Ausschnitte sind teils so gewählt, dass sie entweder verschleiern oder fokussieren.«

Jörg Sasse ist ein Sammler, das merkt man insbesondere an seiner Arbeit Speicher II, die aus 512 gerahmten Bildern besteht, die man sich, mit Hilfe einer Aufsichtsperson, zu einer eigenen, persönlichen Ausstellung zusammenstellen und aufhängen lassen kann. Der Speicher selbst ist eine drei-dimensionale Skulptur, zugleich Archiv und Datenbank von Fotos, die der Künstler als Amateurfotografien aus dem Ruhrgebiet aus den letzten 60 Jahren gesammelt hat. Die Bilder wurden in 56 Kategorien zusammengefasst und jedes Bild mit mindestens drei Schlagworten versehen, wie Freizeit, Wasser, Porträts, Industrie, Handel, Abstraktes, usw. Der Speicher stellt die Frage nach dem Umgang mit dem Archiv: Das Sichtbare ist immer nur ein Teil des Vorhandenen, dem Zufall und dem subjektiven Geschmack unterworfen.

Der 1962 in Bad Salzuflen geborene und seit 2006 in Berlin lebende Jörg Sasse, studierte an der Kunstakademie Düsseldorf, wo er 1987 Meisterschüler bei Bernd Becher war. Er arbeitete als Professor für Dokumentarfotografie an der Universität Duisburg-Essen/ Folkwang Hochschule. 2005 wurde er für den Deutsche Börse Photography Prize nominiert. Seine Werke wurden u.a. im Musée de Grenoble, in der Kunsthalle Zürich, im ZMK Karlsruhe, im Musée d’Art Moderne, in der Kunsthalle Hamburg und in der Photographers’ Gallery London ausgestellt.

Tatsächlich gefällt mir der Begriff „Anarchie“ im Bezug auf Bilder, nicht im Bezug auf das Tun eines Künstlers. Ich habe an anderer Stelle gesagt, dass es eine „Anarchie der Bilder“ gibt, eine Herrschaftslosigkeit, unorganisiert halt, die ich für das wesentliche Potential halte. Was aber sind die Bilder selbst, wie sehen sie aus, wenn wir uns vom „denkenden Sehen“ lösen und ein sehendes Sehen zulassen? [Jörg Sasse]

Eine Übersicht von ausgewählten Ausstellungen des European Month of Photography – EMoP finden Sie auf meiner Übersicht.