Ein Rückblick auf die 66. Berlinale, 2016

Von Friedhelm Denkeler,

Berlinale zwischen United States of Love und einem Dokumentardrama auf Lampedusa

aus "United States of Love", Foto © Friedhelm Denkeler 2016
aus »United States of Love«, Foto © Friedhelm Denkeler 2016

Die diesjährigen Internationalen Filmfestspiele standen angeblich unter dem Slogan „Recht auf Glück!“ Aber was das genau bedeuten soll, wurde während der zehn Festivaltage nicht klar. Ganz klar war dagegen, dass wir wieder einmal ein politisches Festival erlebten, das zeigt sich auch darin, dass die sieben silbernen Bären und insbesondere der Goldene Bär nach politischen Gesichtspunkten vergeben wurden. Der Hauptpreis, der Goldene Bär für den besten Film, ging an das dokumentarische Flüchtlingsdrama »Fuocoammare« von Gianfranco Rosi.

Entsprechend des JOURNAL-Mottos: Berichte aus Berlin zu Photographie und Kunst, haben wir fünfzehn Filme herausgesucht, die eher in den künstlerischen Bereich fielen. Allerdings hielten nicht alle, was sie versprachen. Die Bewertung der Jury kann man nicht immer als Maßstab nehmen und auch die Bewertung der Kritiker fiel oft gegensätzlich aus. So soll es ja auch sein! Die folgenden fünf Filme habe ich bereits in den letzten Tagen im Journal ausführlich vorgestellt, die restlichen zehn heute mit jeweils einer Kurzkritik, die nichts anderes als meine persönliche Meinung wiedergibt.

»Hail, Caesar!« von Joel und Ethan Coen, Artikel: Wäre es bloß so einfach! Es ist sicherlich nicht der beste Film der Coen-Brüder, aber trotzdem meine Empfehlung: Sehenswert allein schon wegen Scarlett Johansson als zauberhaft kratzbürstige Meerjungfrau und George Cloony mit der kuriosesten Haarfrisur der neueren Filmgeschichte (außer Konkurrenz).

»Boris sans Bèatrice« von Denis Côté, Artikel: Einen liebenswerten Mann hassen? Mit vielen herrlichen fotografischen Bildern, Tableau vivants, die auf das Innenleben des Protagonisten hindeuten. Meine Empfehlung: Wenn er in die Kinos kommt unbedingt ansehen.

»Chi-Raq« von Spike Lee, Artikel: No Peace, No Pussy! Einen besonderen Bären hätte Spike Lees umwerfender neuer Film “Chi-Raq” alle Male verdient, allein schon wegen der Musik: eine Art West Side Story mit Hip-Hop- und Beat-Rhythmen; leider lief er nur außer Konkurrenz. Fazit: sehr empfehlenswert.

»Genius« von Michael Grandage, Artikel: „Der Lektor mit dem Rotstift und das chaotische Genie“. Hier wurde viel rote Tinte verspritzt, haufenweise Papier zerknüllt und wurden viele Worte in die Schreibmaschine gehackt. Den ganzen Film über hat der Lektor seinen Hut auf. Als er den Abschiedsbrief von seinem Autor erhält geschieht das Unfassbare: Zum ersten Mal nimmt er seinen Hut ab. Dem kann man nur beipflichten: Chapeau für einen starken Beitrag.

»Midnight Special« von Jeff Nichols, Artikel: »Achtung! Kind!« Ein Kind mit einzigartigen Fähigkeiten oder ein neuer Messias? Eine lange Zeit lässt sich der Film nicht einordnen, aber in den zwei Stunden hat er sich zu einem Familiendrama, politischen Thriller und Science-Fiction-Film entwickelt. Das hört sich erstmal ungewöhnlich an, aber wenn man sich darauf einlässt, kann die Empfehlung nur lauten: Ansehen und sich begeistern lassen.

Das Filmteam von »24 Wochen«, Berlinale 2016, Foto © Friedhelm Denkeler 2016
Das Filmteam von »24 Wochen«, Berlinale 2016, Foto © Friedhelm Denkeler 2016

»Mahana« (Der Patriach) von Lee Tamahori, der im ländlichen Neuseeland der 1960er Jahre spielt. Zwei Maori-Familien, die vom Schafescheren leben, sind seit Jahrzehnten verfeindet. Jetzt aber rebelliert ein Schüler gegen den patriarchalischen Großvater und bringt damit die Feindschaft ins Wanken. Hervorzuheben sind die herrlichen Ausblicke auf die wunderschöne, unberührte Landschaft aus sanften Hügeln, mit unzähligen Schafen und mit viel Regen und Nebel (außer Konkurrenz).

»A Dragon Arrives!« von Mani Haghighi. Das Ungeheuer wohnt unter einem Friedhof, in der Nähe eines Schiffswracks mitten in der iranischen Wüste. Wahrheit, Lügen und Mysterien sind die Grundlagen der verwirrenden Story, aber unvergessen bleiben die herrlichen Bilder der Wüstenlandschaft und das Innere des Schiffswracks.

»Chang Jiang Tu« (Crosscurrent) von Yang Chao, ist eine Reise durch Raum und Zeit. Mit seinem Frachtschiff fährt der junge Kapitän Gao Chun auf dem Jangtse flussaufwärts, zugleich sucht er nach der Liebe seines Lebens. Doch alle Frauen, die er in den verschiedenen Häfen trifft, sind eine einzige Person: ein zauberisches Wesen, das immer jünger wird, je näher er dem Quellgebiet des Jangtse kommt. Ein bildgewaltiger Film, den man aber nicht erklären kann, vielleicht muss man es auch nicht (Silberner Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung).

»24 Wochen« von Anne Zohra-Berrached, »erzählt von einer Kabarettistin, die ein behindertes Kind erwartet und im siebten Monat abtreibt. Dazu kann man alle möglichen Meinungen haben. Der Film ergreift keine Partei, er zeigt einfach nur. Ein guter Film ist fast immer ein Film, der sich mit Urteilen über seine Figuren zurückhält« (Harald Martenstein im Tagesspiegel)

»L’Avenir« (Things to Come) von Mia Hansen-Love. Isabelle Huppert spielt wie immer, diesmal die alternde Frau; ihr Mann liebt eine Jüngere; die depressive Mutter nervt; ein junger Mann, ihr ehemaliger Schüler, will auch nicht so richtig etwas von ihr wissen und ihr Verlag teilt ihr mit, dass ihre anspruchsvollen Bücher nicht mehr in das Marketingkonzept hineinpassen. Fazit: Das Leben geht weiter, aber den Film muss man nicht unbedingt ansehen (Silberner Bär für die Beste Regie)

»News from Planet Mars« von Dominik Moll. Der Protagonist Philippe Mars (sic!) möchte es allen recht machen: Sein Sohn ist ein Hardcore-Vegetarier; seine Tochter eine zwanghafte Streberin, seine Schwester stellt übergroße Gemälde von ihren nackten Eltern aus und der psychisch angeschlagene Kollege läuft im Büro Amok. Dadurch gerät die kleine Welt des Protagonisten aus der von ihm gewünschten Umlaufbahn (außer Konkurrenz).

»Saint Amour« von Benolt Deléphine und Gustave Kervern. Ein Bauer (Gérard Depardieu), sein Sohn und ein junger Taxifahrer unternehmen eine Rundreise zu den bekannten Weinanbaugebieten in Frankreich, dabei kosten sie nicht nur die edlen Tropfen, sondern auch die Freuden der Liebe. Übrigens: Michel Houellebecq hat einen Gastauftritt als Vermieter einer Ferienwohnung. Die Komödie lief außer Konkurrenz und wird sicherlich in die Kinos kommen, unbedingt ansehen muss man ihn aber nicht.

»United States of Love« von Tomasz Wasilewski. Der Film erzählt von vier Frauen, die aus der Enge der polnischen Provinz ausbrechen wollen und von einem sinnlicheren Leben träumen. Annehmbar, aber der Silberne Bär für das Beste Drehbuch ist für mich nicht nachvollziehbar.

»Alone in Berlin« (Jeder stirbt für sich allein) von Vincent Perez. Harald Martenstein hat den Film in seiner täglichen Kolumne im Tagesspiegel wie folgt „ausführlich“ zusammengefasst: „Na ja!“. Mehr gibt dazu auch nicht zu sagen.

»Death in Sarajevu« von Danis Tanovic. In Sarajewo treffen sich auf einem großen Empfang zum hundertjährigen Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges Europas Politiker. Der Film besteht hauptsächlich aus einem Fernseh-Interview und dem Streik des Hotelpersonals. Warum er den Silbernen Bären, den Großen Preis der Jury, erhalten hat, ist rätselhaft.

Achtung! Kind!

Von Friedhelm Denkeler,

Ein Kind mit einzigartigen Fähigkeiten oder ein neuer Messias? Jeff Nichols mit »Midnight Special«

"Auf der nächtlichen Flucht", Foto © Friedhelm Denkeler 2016
»Auf der nächtlichen Flucht«, Foto © Friedhelm Denkeler 2016

Eine lange Zeit lässt sich der neue Film von Jeff Nichols nicht einordnen: Breaking News im Fernseher; der kleine Junge Alton, gespielt von Jaeden Lieberher, ist entführt worden. Die vermeintlichen Entführer sehen sich das sorglos an und auch Alton zeigt keine Angst, obwohl seine Augen mit einer großen, blauen Schutzbrille bedeckt sind.

Alle drei machen sich mit dem Auto in der Nacht zu einem unbekannten Ziel auf. Zur selben Zeit umstellt das FBI die Kirche einer religiösen Sekte und verhört die Anwesenden mit dem Ergebnis, dass diese gleichfalls hinter Alton her sind. In ihren Augen hat er eine besondere Gabe, die ihn zur Rettung der Menschheit oder zu einer tödlichen Waffe macht.

Alton hat paranormale Fähigkeiten: er kann alles Elektrische fernsteuern und aus seinen Augen schießen manchmal mysteriöse Strahlen, die die Erde zum Wanken bringt. Auch kann er streng geheime Codes entschlüsseln. Woher Alton kommt, wo die Reise hingeht und warum er von einer ganzen Armada von FBI-Fahrzeugen verfolgt wird, wird im Laufe des Films immer ein Stück klarer, bleibt aber bis zum Ende nicht ganz vollständig. Eine größere Rolle spielen noch sein Vater Roy (Michael Shannon) und die Mutter Sarah (Kirsten Dunst).

"Der neue Messias oder vom anderen Stern?" Foto © Friedhelm Denkeler 2016
»Der neue Messias oder vom anderen Stern?«, Foto © Friedhelm Denkeler 2016

Die Gala schreibt: »Der Film lässt Interpretationsspielraum, fordert die Fantasie des Publikums und lädt zur Diskussion lange nach dem Abspann ein. Was würde einen heute schon noch das Ende von ‚Inception‘ beschäftigen, wüsste man ganz genau, ob der vermaledeite Kreisel nun umgefallen ist, oder nicht?«

In den zwei Stunden Kino hat sich Midnight Special zu einem Familiendrama, politischen Thriller und Science-Fiction-Film entwickelt. Das hört sich erstmal ungewöhnlich an, aber wenn man sich darauf einlässt, kann die Empfehlung nur lauten: Ansehen, sich begeistern lassen und der Fantasie ihren Lauf lassen.

Der Lektor mit dem Rotstift und das chaotische Genie

Von Friedhelm Denkeler,

Michael Grandage mit »Genius«

Der Lektor Maxwell Perkins (Colin Firth) bekommt im New York der Zwanziger Jahre einen ungeordneten Haufen von Tausend Papierseiten von einem unbekannten Autor namens Thomas Wolfe (Jude Law) auf seinen Schreibtisch geknallt. Nachdem Perkins bereits Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald erstmals unter Vertrag genommen hat, ist er sofort davon überzeugt, ein neues Genie entdeckt zu haben. Wolfe ist bereits bei allen anderen Verlagen abgeblitzt ist und hat nun bei Perkins Glück. Gemeinsam machen sie sich an die Arbeit, das Werk auf eine vernünftige Größe zu reduzieren. Ein mehrjähriger Kampf um die richtigen Formulierungen beginnt.

"Colin Firth und Jude Law auf der Berlinale2016", Foto © Friedhelm Denkeler 2016
»Colin Firth und Jude Law auf der Berlinale 2016«, Foto © Friedhelm Denkeler 2016

Der britische Theaterregisseur Michael Grandage, der hiermit seinen ersten Film realisiert, hatte es bei dem umfangreichen Stoff, Lektor und Schriftsteller bei der Arbeit zuzusehen, nicht einfach. Da musste schon viel rote Tinte verspritzt, haufenweise Papier zerknüllt und viele Worte in die Schreibmaschine gehackt werden. Es gibt auch schon mal eine Seite, auf der so viele Sätze dem Rotstift zum Opfer fallen, dass am Ende von der Seite gar nichts mehr übrigbleibt.

Gut, ob ein Lektor und sein Schützling die Seiten im Stehen und Gehen auf New Yorks Straßen und Bahnhöfen redigieren, ist sicherlich nicht realistisch, so kam aber mehr Aktion in den Film. Und dann gibt es noch die kleinen Feinheiten und liebenswerten Marotten; Perkins hat den ganzen Film über seinen Hut auf, selbstverständlich auch im Büro und natürlich benutzt er im Regen zusätzlich einen Regenschirm während sein Gegenspieler barhäuptig im Regen tanzt und in die Pfützen pascht.

Die Berliner Morgenpost schreibt: »Und wir lernen sehr viel über das Schreiben und über die Schreiber. Dass Genie eben immer auch Wahnsinn heißt. Das Genies aber auch immer jemanden brauchen, der den Wahnsinn zügelt. Der Autor kämpft um jede Zeile. Und schimpft einmal, wie gut, dass Perkins Tolstoi nicht lektoriert hat, sonst hätte man nur Krieg und Nichts. Und der Lektor ist gar nicht so sicher, ob er die Bücher wirklich besser macht. Und nicht nur anders.«

Nach dem Erfolg beginnen die Probleme: Das erste Buch hatte Wolfe seiner Geliebten gewidmet, die dann aber auch ebenso schnell abgeschoben wurde; das zweite widmete er seinem Lektor und es klingt zugleich wie eine Grabinschrift. Am Ende des Films lässt ein Gehirntumor Wolfe am Strand zusammenbrechen und auf dem Krankenbett schreibt er mit letzter Kraft einen Abschiedsbriefbrief an Perkins. Als dieser später den Brief öffnet, geschieht das Unfassbare: Zum ersten Mal nimmt er seinen Hut ab. Dem kann man nur beipflichten: Chapeau für einen starken Beitrag auf der diesjährigen Berlinale.

Spike Lee mit »Chi-Raq« – No Peace, No Pussy!

Von Friedhelm Denkeler,

"Teyonah Parris als Lysistrata in Chi-Raq", Foto © Friedhelm Denkeler 2016
»Teyonah Parris als Lysistrata in »Chi-Raq«, Foto © Friedhelm Denkeler 2016

Einen besonderen Bären hätte Spike Lees umwerfender neuer Film „Chi-Raq“ alle Male verdient, allein schon wegen der Musik: eine Art West Side Story mit Hip-Hop- und Beat-Rhythmen; leider lief er nur außer Konkurrenz.

Kurz zum Inhalt: Lysistratas (Teyonah Parris) Geliebter Chi-Raq (Nick Cannon) liefert sich mit seiner Gang Straßenschlachten mit der ebenfalls schwarzen Gang von Cyclop (Wesley Snipes).

Immer wieder gibt es Tote, diesmal traf ein Querschläger das kleine Mädchen Patti. Um dem Treiben endlich Einhalt zu gebieten trommelt Lysistrata die Girls aus beiden Lagern unter dem Schlachtruf »No peace, no pussy!« zusammen.

Wie es weitergeht, deutet der Name der Protagonistin an. In der bekannten Komödie des griechischen Dichters Aristophanes Lysistrata verschwören sich die Frauen gegen die Krieg führenden Männer; sie verweigern sich ihren Gatten, um den Frieden zu erzwingen.

Nach über zwei Filmstunden, die einem in den sehr engen Reihen des Friedrichstadtpalasts überhaupt nicht zu lang vorkamen, hatten die Frauen ihr Ziel erreicht; die Anführer der Gangs Spartaner und Trojaner unterzeichneten einen Waffenstillstands-Vertrag. Durch den gesamten Film führt Dolmedes (Samuel L. Jackson) als fiktiver Erzähler.

Chicago heißt im Film provokant Chi-Raq, weil dort genauso viele junge Schwarze ermordet wurden wie im gleichen Zeitraum in den Kriegen in Afghanistan und Irak: Zwischen 2001 und 2015 starben 7356 US-Soldaten durch Waffengewalt (die meisten waren schwarz), eine „nationale Notlage“ hat Spike Lee mit großen, roten Lettern am Anfang des Films mitteilt.

"Wesley Snipes als Cyclops in Chi-Raq", Foto © Friedhelm Denkeler 2016
»Wesley Snipes als Cyclops in Chi-Raq«, Foto © Friedhelm Denkeler 2016

Er attackiert die Waffen- und Finanzlobby, die US-Regierung und die Gangsterbosse gleichermaßen. Chicagos Bürgermeister (im Film D.B. Sweeney als McCloud) passte der Titel nicht, er hatte sich mit Spike Lee im Vorfeld getroffen und bat um Änderung.

DER SPIEGEL schreibt: „Denn Chi-Raq ist ein wildes Experiment … das flammend (und zuweilen ein bisschen zu didaktisch) für Liebe, Humanismus und Gerechtigkeit plädiert und gleichzeitig so fett, dynamisch und groovy wie ein Rap-Track wirkt … Durchtrainierte, leichtbekleidete Männer- und Frauenleiber winden und gerieren sich lasziv zu Beats und Soulmusik, die Dialoge werden, ihrer klassischen Vorlage gerecht, gereimt“.

Auch die deutschen Untertitel waren von hoher Qualität, auch sie waren gereimt (sic!), was auf Experten aus der Hip-Hop-Szene schließen lässt. Der Film ist kein naturalistisches Schicksalsdrama, sondern eine »pralle, mit Witz, Satire und viel Musik angereicherte Variante von Lysistrata«. Fazit: sehr empfehlenswert, ein Top-Favorit von zehn bisher auf der Berlinale gesehenen Filmen; ganz einfach, weil er gänzlich aus dem Rahmen fällt. 

Einen liebenswerten Mann hassen?

Von Friedhelm Denkeler,

Denis Côté mit »Boris sans Bèatrice«

"James Hyndman als Boris Malinowski in: Boris sans Bèatrice", Foto © Friedhelm Denkeler 2016
»James Hyndman als Boris Malinowski in: Boris sans Bèatrice«, Foto © Friedhelm Denkeler 2016

Ein Mann steht, mit dem Rücken zur Kamera, auf einer mit hohem Gras bewachsenen Wiese; im Hintergrund sieht man den Rand eines Waldes. Plötzlich vibriert das ganze Kino; mit ohrenbetäubendem Lärm nähert sich dem Mann ein schwerer Hubschrauber, der scheinbar zur Landung ansetzen will; das Gras wird in Wellenbewegungen auf den Boden gedrückt.

Sowas kann man nur im Kino in bester Qualität auf einer riesengroßen Leinwand beinahe körperlich selbst erleben. Man denkt unwillkürlich an »Another Brick In The Wall Part 1« von Pink Floyd. Im Hubschrauber selbst kann man keinen Menschen erkennen, auch keinen Piloten; am Ende des Films sieht man diese Szene noch einmal, aber so richtig über die Bedeutung wird der Zuschauer nicht aufgeklärt. Man muss sich seinen Teil denken.

Kurz die Geschichte: Es geht um die zerbrochene Ehe zwischen dem reichen Unternehmer Boris und einer Ministerin der kanadischen Regierung namens Beatrice, die in Depressionen verfallen ist. Eines Nacht trifft sich Boris (James Hyndman) im Wald mit einem mysteriösen Unbekannten (Denis Lavent, bekannt aus Leos Carax »Die Liebenden von Pont-Neuf«). Ob es den nun wirklich gibt oder ob es sein eigenes Gewissen, eine Stimme aus dem Jenseits oder ein Psychoanalytiker ist, sei dahingestellt. Jedenfalls sagt der Unbekannte, wenn du deine Frau noch liebst, musst du dich ändern. Boris, ein Macho par exellence, geht immer mehr in sich und ändert so langsam sein Leben. Er wirft die Geliebte hinaus, versöhnt sich mit Mutter und Tochter. Und langsam findet sich Bèatrice (Simone-Èlise Girad) wieder in die Welt zurück.

"Simone-Èlise Girad als Bèatrice Malinowsky in: Boris sans Bèatrice", Foto © Friedhelm Denkeler 2016
»Simone-Èlise Girad als Bèatrice Malinowsky in: Boris sans Bèatrice«, Foto © Friedhelm Denkeler 2016

Auf der Pressekonferenz wurde neben dem Tantalus-Mythos, in dem der Held, nachdem er gegen die Götter frevelte, einen Fluch auf sich lud, wie auch Dantes Inferno von der Hölle, auf dem Läuterungsweg zum Paradies (übrigens auch mit einer Beatrice) angesprochen.

In der Eingangsszene mit dem Hubschrauber wird das bereits angedeutet: Die Ruhe im Paradies und der Lärm der Hölle. Gut, ganz so intellektuell, wie sich das jetzt anhört, ist der Film nicht, eher eine zeitgenössische Rock-Version der griechischen Mythologie.

Neben der Hubschrauber-Szene finden wir viele herrliche fotografische Bilder im Film, Tableau vivants, die auf das Innenleben des Protagonisten hindeuten. Er stellt sich den Versäumnissen seines Lebens und gewinnt langsam die Kontrolle über das Leben zurück. Meine Empfehlung: Wenn »Boris sans Bèatrice« in die Kinos kommt unbedingt ansehen, allein schon wegen der herrlichen Bilder (Kamera: Jessica Lee Gagnè).

Wäre es bloß so einfach!

Von Friedhelm Denkeler,

Es klingt verrückt, aber jemand von der Zukunft hat angerufen. Joel und Ethan Coen mit »Hail, Caesar!«

"George Cloony als Baird Whitelock als römischer Offizier in Hail Caesar!", Foto © Friedhelm Denkeler 2016
»George Cloony als Baird Whitelock als römischer Offizier in Hail Caesar!«, Foto © Friedhelm Denkeler 2016

Die Coen-Brüder haben wieder einmal zu geschlagen, mit dem Eröffnungsfilm der 66. Filmfestspiele Berlin (2011 waren sie mit True Grit am Start). Der Film »Hail, Caesar!« mit George Cloony, Ralph Fiennes, Tilda Swinton und Scarlett Johannsson ist eine Hommage an die Studiofilme Hollywoods der frühen fünfziger Jahre mit Szenen aus Musicals, Western und Krimis der Schwarzen Serie.

Als Rahmenhandlung dient die Produktion des Sandalenfilms »Hail, Caesar«, dessen Hauptdarsteller Baird Whitlock (Cloony mit herrlich dämlichem Grinsen) von einer kommunistischen (sic!) Zelle »The Future« entführt wird (McCarthy-Ära!), die nun vom Produktionsleiter Eddie Mannix (Josh Brolin) 100.000 Dollar Lösegeld fordert.

Dieter Kosslick hatte im Vorfeld betont, das Festival werde Filme zu den Krisenherden der Welt zeigen, aber auch der Spaß soll nicht zu kurz kommen. Der Eröffnungsfilm gehört ›110prozentig‹ zur zweiten Kategorie. Ein Ersatzschauspieler, der bisher nur als singender Cowboy auftrat, bringt keine fünf zusammenhänge Worte heraus (»Wäre es bloß so einfach!«); ein Produktionsleiter muss sich mit zwei zickigen Klatschreporterinnen (Swinton in einer Doppelrolle) herumschlagen und wie nachts vor der kommunistischen Zelle im Ruderboot auf dem Ozean plötzlich ein russisches U-Boot auftaucht, das ist schon aberwitzig und grotesk.

"Scarlett Johannsson als DeeAnna Moran als Meerjungfrau in Hail, Caesar!", Foto © Friedhelm Denkeler 2016
»Scarlett Johannsson als DeeAnna Moran als Meerjungfrau in Hail, Caesar!«, Foto © Friedhelm Denkeler 2016

Der Film »mag keinen in die Tiefe gehenden Anspruch haben, ist an manchen Stellen schlichtweg ein wenig albern und setzt sich kaum ernsthaft mit den Abgründen des Filmgeschäfts auseinander. Doch solch einen witzigen, unterhaltsamen und vergnüglichen Film muss man erst einmal zustande bringen« (Deutsche Welle).

In diesen Tagen läuft der Film, der außer Konkurrenz gezeigt wurde, bereits in den Berliner Kinos an. Es ist sicherlich nicht der beste Film der Coen-Brüder, aber trotzdem meine Empfehlung: Sehenswert allein schon wegen des Wasserballetts und einer zauberhaft kratzbürstigen Meerjungfrau (Johannsson). Trailer 1, Trailer 2

Die Frau im roten Kleid

Von Friedhelm Denkeler,

»La belle et la bête (Die Schöne und das Biest)« von Christophe Gans mit Vincent Cassel, Léa Seydoux und André Dussollier

»Die Schöne und das Biest« ist dem Märchen- und Filmfreund aus zahlreichen Verfilmungen hinreichend bekannt, was sich aber Christophe Gans und das Studio Babelsberg in »La belle et la bête« nun geleistet haben – da konnte der ganze Saal bei der Wiederholung des Films im Friedrichstadtpalast heute Nachmittag nur noch lachen. Ein Glück, dass der Film außer Konkurrenz lief. Dass dieser Kinderfilm aber überhaupt in der Sektion Wettbewerb der Berlinale lief, ist fast eine Beleidigung für die anderen ernsthaften Beiträge und Premieren.

"Das Biest im Friedrichstadtpalast (unsichtbar)", Foto © Friedhelm Denkeler 2014
»Das Biest im Friedrichstadtpalast (unsichtbar)«
Foto © Friedhelm Denkeler 2014

So richtig schlimm wird der Film erst, als Belle in das Schloss des Biests ankommt: Jede Landschaftseinstellung ist eine Kitsch-Ansichtskarte, goldene Zauberstrahlen mit Glühwürmchen-Effekt wabern durch die Lüfte (es fehlte nur noch deren 3D-Darstellung; in »Avatar« hat das noch funktioniert), Riesen-Steinstatuen erwachen zum Leben, Riesen-Schlingpflanzen verschlingen alles und niedliche (leider digital animierte) Beagle-Karikaturen wuseln ohne Sinn unter dem Sofa herum.

»Christophe Gans bietet beinahe alles auf, was die digitale Technik hergibt. Jean Cocteau hätte es kaum für möglich gehalten. Doch das Paradoxe geschieht: Je voller dieser Film, desto leerer wird er. Was für ein seltsamer horror vacui, dem Gans am Ende mit offensivem Kitsch zu begegnen sucht.« [Der Tagesspiegel]. Dies ist nun die dritte Großproduktion aus dem Studio Babelsberg im Wettbewerb (nach Grand Budapest Hotel und The Monuments Men). Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Die eigentliche Botschaft dieser Erzählung über Schuld und Mitleid und dass die Voraussetzung für die Erlösung der Verzicht auf Eigennutz ist, das nimmt man nicht mehr war. Und als Belle am Ende der Bestie dann sagt, dass sie sie liebe, glaubt das kein Zuschauer mehr. Obwohl die großartige Léa Seydoux (Blau ist eine warme Farbe, Grand Budapest Hotel) als Schöne in ihrem roten Kleid im verschneiten Wald fantastisch aussah; sie hatte sich nicht nur im Wald verirrt, sondern auch in diesen Film. Am Ende wurde die Bestie wieder Mensch, aber der Film blieb ein reines Technik-Spektakel.

Das kann man nur im Kino sehen

Von Friedhelm Denkeler,

»Boyhood« von Richard Linklater

Das Ende eines jeden perfekten Films kommt zwangsläufig zu früh
[Frankfurter Rundschau zum Ende des Films].

"Berlinale-Plakat", Foto © Friedhelm Denkeler 2014
»Berlinale-Plakat«, Foto © Friedhelm Denkeler 2014

Man kann schon misstrauisch werden, wenn man so einen perfekten Film gesehen hat und sich nach fast drei Stunden wünscht, der Film möge noch weiter gehen. In Richard Linklaters Boyhood stimmt aber auch alles: Die Schauspieler agieren, als wenn es das richtige Leben wäre, die warmen Farben unterstützen das Wohlfühl-Feeling, die Story ist logisch und knapp aufgebaut; man möchte keine Minute des Films missen, in dem es eigentlich nur um das Aufwachsen eines Jungens namens Mason geht.

Ein Mut machender Film für das Leben an sich, auch wenn nicht alles eitel Sonnenschein ist. Masons Mutter war gefühlte drei Mal mit einem Alkoholiker verheiratet. Linklaters vorhergehende »Before …«-Film-Trilogie (Before Sunrise, 1995, Before Sunset, 2004, Before Midnight, 2013) deutete diese Richtung bereits an.

Zwölf Jahre lang hat Linklater die Protagonisten von Boyhood verfolgt und jedes Jahr einige Szenen gedreht (insgesamt 39 Drehtage). Ganz nebenbei wurde der Film auch zu einer Geschichtsstunde: Vom Irak-Krieg, über den Obama-Wahlkampf zur NSA-Affäre. Auf Zwischentitel konnte Linklater verzichten; der Zuschauer erkennt anhand der neuen Häuser nach mehrmaligen Umzügen, den wechselnden Frisuren und dem Musikgeschmack sofort den aktuellen Stand der neuen Patchwork-Familie.

Es gibt in Boyhood nichts zu sehen, was man nicht in anderen Filmen schon gesehen hätte, und doch sieht man alles wie zum ersten Mal, weil es aus der fiktiven in die wirkliche Zeit versetzt ist und zugleich die Erzählform der Fiktion bewahrt. Boyhood ist der herausragende Beitrag im Wettbewerb der Berlinale, weil er ein Versprechen wahr macht, das so alt ist wie die bewegten Bilder selbst, weil er etwas zeigt, dass man so nur im Kino zeigen kann. [FAZ]

Und eben nur im Kino, weil im wirklichen Leben leider alles doch nicht so glatt läuft und familiäre Brüche mehr Spuren hinterlassen als im sonnendurchfluteten Texas des Films. Traumfabrik trifft Doku-Soap.

Seit 2002 arbeitet Richard Linklater an diesem einmaligen Spielfilmprojekt, das alljährlich die gleichen Darsteller vor der Kamera versammelt. So bekommt der Zuschauer die Möglichkeit, Menschen über einen längeren Zeitraum beim Leben zuzuschauen – mit allem was dazugehört. Experimentierfreudig und mit offenem Blick folgt er dem Jungen Mason (Ellar Coltrane) aus Austin von den schulischen Anfängen bis zum Eintritt ins College. Er muss mit einer anstrengenden Schwester (Lorelei Linklater ) und geschiedenen Eltern fertig werden.

Den freakigen Vater, der irgendwann doch erwachsen wird, spielt Ethan Hawke, Patricia Arquette die alleinerziehende Mutter, die stets an die falschen Männer gerät und nebenbei ihr Studium erledigt. Mitten in diesem Lebens- und Gefühlschaos steht Mason, dessen kluge Kommentare mit jedem Jahr klüger werden. Mit weitreichendem erzählerischem Atem inszeniert, geht es hier um kleine und große Sehnsüchte und Sorgen, um die Bedürfnisse und Ängste eines Heranwachsenden, die sich zu einem hellsichtigen und kurzweiligen Panorama einer amerikanischen Kindheit und Jugend fügen.“ [Quelle: Filmbeschreibung]

Zwischen Militärklamotte und Dokumentation?

Von Friedhelm Denkeler,

Zwiespältig – »The Monuments Men« von und mit George Clooney

"The Monuments Men", Foto © Friedhelm Denkeler 2014
„The Monuments Men“, Foto © Friedhelm Denkeler 2014

Gestern Abend war er auf dem Roten Teppich des Berlinale Palastes auf dem Marlene-Dietrich-Platz zu sehen – George Clooney als Regisseur und Haupt-Darsteller. Neben seinen filmischen Monuments Men Kollegen Matt Damon, Bill Murray, John Goodman, Jean Dujardin, Bob Balaban (nur Cate Blanchett fehlte) stand auch der letzte noch lebende Soldat aus der Monuments-Truppe, der 88-jährige Harry Ettlinger mit auf dem Teppich. Soviel Hollywood war selten in Berlin. Die Dreharbeiten fanden unter anderem im Studio Babelsberg, in der Region um Goslar und in Berlin an der Neuen Wache statt.

Die Monuments Men waren in den letzten Kriegsjahren eine US-Spezialtruppe von Kunsthistorikern, Kuratoren, Bildhauern und Museumsdirektoren, die die von den Nazis geraubten Kunstschätze, wie Michelangelos Brügger Madonna und Jan van Eycks Genter Altar, sichern sollten. Tausende Kunstwerke wurden von den Nazis in Salzstöcken und Bergwerksstollen eingelagert und sollten nach der Politik der verbrannten Erde bei einem verlorenen Krieg zerstört werden.

Fazit: Der Film schwankt zwischen Komödie (siehe »Ocean’s Eleven«) und Abrechnung mit den NS-Verbrechen an der Kunst. Der historische Stoff hätte es gar nicht nötig gehabt mit Witzchen verschlimmbessert zu werden. Insbesondere die jüngeren Zuschauer lachten dann auch unnötigerweise bei dem eigentlich ernsten Thema. Da blieb irgendwie nur noch Fremdschämen und die Tatsache, dass aus diesem Stoff so viel mehr hätte entstehen können, wenn der Schwerpunkt auf der geistigen Auseinandersetzung um die Bedeutung von Kunst angesichts von Krieg und Zerstörung gelegen hätte. Jeder sollte sich sein eigenes Urteil über den Film bilden.

»Monuments Man George Clooney vor dem Berlinale Palast«, Foto © Friedhelm Denkeler 2014
»Monuments Man George Clooney vor dem Berlinale Palast«, Foto © Friedhelm Denkeler 2014

Gespannt wie ein Flitzebogen

Von Friedhelm Denkeler,

Die fulminante Tragik-Komödie »The Grand Budapest Hotel« von Wes Anderson

"Grand Budapest Hotel", Foto © Friedhelm Denkeler 2014
»Grand Budapest Hotel«, Foto © Friedhelm Denkeler 2014

Der Eröffnungsfilm der diesjährigen, der 64. Berlinale, ist eine internationale Koproduktion mit großer Starbesetzung. Der Film spielt in der Zwischenzeit der beiden Weltkriege und das hauptsächlich im Foyer des Grand Budapest Hotels als einem Theater der Welt in einem fiktiven osteuropäischen Land; daneben spielt die Altstadt von Görlitz eine große Rolle.

»Phantastisch barocke Bildtableaus und ein skurriles Personenarsenal, dazu eine irrwitzige Handlung, der man manchmal kaum folgen kann« [Deutsche Welle], mit schrillen Farben, exzentrischen Kostümen, majestätischen Gebäuden und Protogonisten, die in aberwitzige Handlungen verwickelt werden.

Die wichtigsten Stars, wie Tilda Swinton, Ralph Fiennes, Willem Dafoe, Harvey Keitel, Jude Law, Bill Murray, Edward Norton, Jeff Goldblum und Owen Wilson sind auf dem Filmplakat abgebildet. Ein Vorteil der Berlinale-Filme ist es, dass man sie im Original hören kann; so konnten wir mitbekommen, dass Wes Anderson auch einmal einen deutschen Satz eingebaut hat: »Gespannt wie ein Flitzebogen«. Und so gespannt wie dieser sind wir auch auf die kommenden Filme.

Wes Andersons Filme sind immer etwas Besonderes: Moonrise Kingdom, 2012, Die Tiefseetaucher (The Life Aquatic with Steve Zissou), 2004, The Royal Tenenbaums, 2001 und jetzt das Grand Budapest Hotel. Sehenswert, für all diejenigen, die Lust haben, die Welt einmal mit anderen Augen zu sehen.

Der unvollendete Film mit River Phoenix

Von Friedhelm Denkeler,

George Sluizer: »Dark Blood«, Niederlande

"Regisseur George Sluizer (li.) und Jonathan Pryce, Foto © Friedhelm Denkeler 2013
»Regisseur George Sluizer (li.) und Jonathan Pryce«
Foto © Friedhelm Denkeler 2013

Zwanzig Jahre, nachdem der Film nicht fertiggestellt werden konnte, lief er heute Abend als Weltpremiere (außer Konkurrenz) auf der Berlinale. Jonathan Pryce, einer der damaligen Hauptdarsteller begleitete den mittlerweile 80-jährigen Regisseur George Sluizer in den Berlinale-Palast. River Phoenix, der während der Dreharbeiten verstarb, erwies sich auch posthum als ideale Besetzung für den, wie er sich selbst bezeichnete, Viertelindianer Boy.

Der Film wirkt, als wäre er in der Jetzt-Zeit gedreht. Nur gab es noch keine rettenden Handys. Die Berliner Zeitung schreibt dazu: »Aber das postapokalyptische Szenario des Films, der Zusammenstoß der weißen und indigenen Kultur, die Hilflosigkeit westlicher Arroganz wirken heute bedeutungsvoller, brisanter und aktueller als damals, als die Welt noch 20 Jahre jünger war.«

Für Sluizer muss es die Erfüllung eines Lebenstraums gewesen sein, diesen Film zu beenden. Von Krankheit geschwächt konnte er die Bühne nicht mehr betreten, sondern bedankte sich unten im Saal mit ergreifenden Worten für die Chance dieser Aufführung. Es gab stehenden Applaus.

Boy (River Phoenix), ein verwitweter junger Mann mit indianischen Wurzeln, lebt in einer durch Nukleartests verseuchten Wüste in den USA. Hier wartet er auf das Ende der Welt, umgeben von Voodoo-Puppen der Ureinwohner, die magische Kraft besitzen sollen.

In dieses Refugium brechen unerwartet Harry (Jonathan Pryce) und Buffy (Judy Davis) ein, die eine späte zweite Hochzeitsreise angetreten haben, um zu prüfen, ob ihre Ehe noch eine Zukunft hat. Als ihr Bentley streikt, bietet Boy seine Hilfe an. Doch dann beginnt er, die beiden wie Gefangene zu halten, weil er hofft, gemeinsam mit Buffy in eine bessere Welt hinüberwechseln zu können.

Nach dem plötzlichen Tod des Hauptdarstellers River Phoenix zehn Tage vor Abschluss der Dreharbeiten 1993 fiel das Filmmaterial zu Dark Blood an die Versicherung, die für den Drehabbruch aufkam. Jahre später konnte Regisseur George Sluizer das Material vor der endgültigen Vernichtung bewahren.

Im Januar 2012 begann er mit der Endfertigung seines Films, wobei er sich entschloss, die fehlenden Szenen im Off aus dem Drehbuch vorzulesen. Sein Film ist ein existenzialistischer Spätwestern von suggestiver Kraft, die nicht zuletzt von der Präsenz seiner am Rande des Todes balancierenden Hauptfigur ausgeht. [Quelle: Filmbeschreibung] www.berlinale.de

Bittere Pillen – Wenn der Schwindel nur Schwindel ist

Von Friedhelm Denkeler,

Steven Soderbergh: »Side Effects«, USA, mit Jude Law, Rooney Mara und Catherine Zeta-Jones

"Rooney Mara auf dem Roten Teppich",  Foto © Friedhelm Denkeler  2013
»Rooney Mara auf dem Roten Teppich«
Foto © Friedhelm Denkeler 2013

Einen Thriller über die Machenschaften der Pharmaindustrie gab es bisher auf der Berlinale nicht – zumindest im ersten Teil des Films schien es einer zu werden. Doch dann beginnt der Schwindel: Der beste bisher vorgetäuschte Selbstmord der Filmgeschichte mit Sicherheitsgurt und Airbag und ein vorgetäuschter Mord unter der Glücksdroge Ablixa, der wiederum ein echter ist.

Und wie war das noch gleich mit der Beziehung der Patientin zu ihrer Psychiaterin, die wiederum mit eigenen Pharma-Aktien Gewinn machen will? Der Mann der Patientin saß bereits wegen seiner Börsengeschäfte im Gefängnis und kam nach der Entlassung unter das Küchenmesser seiner Frau – ›gesponsert‹ von Ablixa oder von der Psychiaterin? Sollte dieser Text etwaige Nebenwirkungen haben, so ist das beabsichtigt. Fragen Sie dazu bitte den Regisseur.

"Steven Soderbergh, Rooney Mara, Jude Law auf dem Roten Teppich ",  Foto © Friedhelm Denkeler  2013
»Steven Soderbergh, Rooney Mara, Jude Law auf dem Roten Teppich«, Foto © Friedhelm Denkeler 2013

Angstzustände, Schweißausbrüche, Herzklopfen machen Emily Taylor (Rooney Mara) das Leben zur Hölle. Dabei sollte sich die junge Frau eigentlich freuen, wird doch ihr geliebter Mann bald aus dem Gefängnis entlassen. Nach seiner Rückkehr verschlimmert sich ihr Gemütszustand jedoch zusehends. Die verschriebenen Psychopharmaka stabilisieren sie, führen aber zu geistigen Absenzen.

Eines Tages liegt ihr Ehemann brutal niedergestochen in der Wohnung. Die Blutspur führt zu Emily, die vorgibt, sich an nichts mehr erinnern zu können. Der aufstrebende Psychiater Dr. Jonathan Banks(Jude Law) nimmt sich ihres Falls an und untersucht dabei auch die Nebenwirkungen ihrer Medikamente.

Stets nutzt Steven Soderbergh das Genrekino, um politische Skandale oder gesellschaftliche Zustände zu beschreiben. In seinem Thriller Traffic (Berlinale 2001) zeigte er die Schattenseite der US-amerikanischen Drogenpolitik, nun untersucht er in einem Psychothriller die Machenschaften von Pharmakonzernen. Um die Wahrheit ans Licht zu bringen, muss sich sein Protagonist Banks nicht nur mit der zwielichtigen Psychiaterin Dr. Erica Siebert (Catherine Zeta-Jones) auseinandersetzen, sondern auch so manche bittere Pille schlucken. [Quelle: Filmbeschreibung] www.berlinale.de

Der geschlossene Vorhang – Psychodrama mit Jafar Panahi und seinem Alter Ego über das Eingesperrtsein

Von Friedhelm Denkeler,

Jafar Panahi: »Closed Curtain« (»Parde«), Iran

Ein wahrer Freund ist gleichsam ein zweites Selbst [Cicero, 44 v. Chr.]

Jafar Panahi erhielt 2006 den Silbernen Bären für seinen Film »Offside«. 2011 wurde er in die Jury der Berlinale berufen, sein Platz blieb leer. Er wurde vom Teheraner Regime zu einem 20-jährigen Berufs-, Sprech- und Reiseverbot und sechs Jahren Haft verurteilt (bis zum Ende der Berufung ist er unter Auflagen frei). Panahi gilt heute als einer der wichtigsten unabhängigen Filmemacher des Irans.

"Maryam Moghadam und Kambozia Partovi",  Foto © Friedhelm Denkeler  2013
»Maryam Moghadam und Kambozia Partovi«, Foto © Friedhelm Denkeler 2013

In seinem neuen Film »Parde«, den er eigentlich nicht drehen durfte, verarbeitet Panahi (zusammen mit dem Co-Regisseur Partovi, beide ›spielen‹ auch mit) seine aktuelle Situation, indem er mehrere Identitäten als Zweites Ich auftreten lässt:

Ein Drehbuch schreibender Mann (Kambozia Partovi), der alle Fenster mit schwarzem Stoff verhüllt, eine junge Frau (Maryam Moghadam) als Verkörperung des freien Denkens, die wieder Licht ins Haus lässt und abgehängte Bilder enthüllt (und später im Meer untergeht) und der Hund ›Boy‹ als Verfolgter des Mullah-Regimes, spielen die Hauptrollen.

Und plötzlich läuft Jafar Panahi persönlich durch das Bild; die Zuschauer klatschen spontan Beifall im Berlinale-Palast. So berichtet sein mutiger Film gleichzeitig sinnbildlich und konkret über die Gefangenschaft im eigenen Land und es ist gleichzeitig ein Werk über Mut und Hoffnung und Aufbegehren gegen die Unterdrückung.

Der Film gibt Panahi, unter Anwesenheit von Kulturstaatsminister Bernd Neumann, weltweit eine Stimme; mit einem Film den es eigentlich nicht geben dürfte und der hinter verschlossenen Vorhängen gedreht wurde.

Die Vielschichtigkeit der verschiedenen Ebenen hier wiederzugeben, würde den Rahmen sprengen. Der eigentliche Film findet im Kopf statt und was dies minimalistisch gedrehte Kammerspiel dort entfacht, ist enorm. Der bisher anspruchsvollste Film des Wettbewerbs.

Sie werden gesucht: der Mann und sein Hund, den er eigentlich nicht besitzen darf, da das Tier nach islamischen Geboten als unrein gilt. Die junge Frau, die an einer verbotenen Party am Ufer des Kaspischen Meers teilgenommen hat. Sie verbarrikadieren sich in einer abgelegenen Villa mit verhängten Fenstern und beäugen einander misstrauisch.

Warum hat er sich den Schädel kahl rasiert? Woher weiß sie, dass er von der Polizei verfolgt wird? Beide sind sie Gefangene eines Hauses ohne Aussicht inmitten einer bedrohlichen Umgebung. Aus der Ferne hört man die Stimmen von Polizisten, aber auch das beruhigende Rauschen des Meeres. Einmal betrachten die beiden nachts den Sternenhimmel, bevor sie wieder hinter die Mauern zurückkehren.

Ob man es hier mit Outlaws in mehrfacher Hinsicht zu tun hat? Oder sind der Mann und die junge Frau Phantome, Kopfgeburten eines Filmemachers, der nicht mehr arbeiten darf? Jetzt betritt der Regisseur die Szene, die Vorhänge werden wieder aufgezogen. Die Wirklichkeit erhält Einzug, doch wird sie von der Fiktion immer wieder eingeholt. Eine absurde Situation: Zwei Drehbuchgestalten suchen und beobachten ihren Regisseur. [Quelle: Filmbeschreibung] www.berlinale.de

Im Neun-Jahres-Rhythmus vom Sonnenaufgang zum Sonnenuntergang bis Mitternacht

Von Friedhelm Denkeler,

Richard Linklater: »Before Midnight« mit Julie Delpy und Ethan Hawke, USA/Griechenland

"Ethan Hawke und Julie Delpy auf dem Roten Teppich",  Foto © Friedhelm Denkeler  2013
»Ethan Hawke und Julie Delpy auf dem Roten Teppich«, Foto © Friedhelm Denkeler 2013

Ihre Dialoge über die Liebe und das Leben, über Gott und die Welt begannen vor 17 Jahren: In Before Sunrise (1995) lernten sich der Amerikaner Jesse und die Französin Céline im Zug nach Wien kennen. Sie flirteten, philosophierten und argumentierten, während eines nächtlichen Spaziergangs durch die Stadt. Im Morgengrauen gab es am Bahnsteig das Versprechen eines Wiedersehens.

Doch erst neun Jahre später kreuzten sich ihre Wege in Before Sunset (2004) erneut. Die beiden verbrachten einen Tag in Paris zusammen, tauschten sich über ihre unglücklichen Beziehungen aus und entdeckten dabei ihre Gefühle füreinander aufs Neue.In Before Midnight erfährt man nun, dass Jesse und Céline damals zusammen geblieben sind. Mit ihren Töchtern verbringen sie den Urlaub in Griechenland. Und noch immer ist die Welt der Gefühle ihr favorisiertes Thema. Mittlerweile aber steht die eigene Beziehung auf dem Prüfstand, denn der Alltagstrott hat seine Spuren hinterlassen.

"Julie Delpy  und Ethan Hawke auf der Festival-Bühne",  Foto © Friedhelm Denkeler  2013
»Julie Delpy und Ethan Hawke auf der Festival-Bühne«, Foto © Friedhelm Denkeler 2013

Wieder haben die Schauspieler das Drehbuch gemeinsam mit ihrem Regisseur entwickelt, wieder macht sich in den Dialogen das Leben breit, und wieder ist der Ausgang ungewiss: Kann eine romantische Nacht im Hotel die Liebe retten? [Quelle: Filmbeschreibung]

Wird es einen vierten Teil geben? Diese Frage musste natürlich auch in der morgendlichen Pressekonferenz kommen. Darüber will Richard Linklater frühestens in sechs Jahren nachdenken: »Wer kennt schon die Zukunft?«. Aber zunächst zum außer Konkurrenz laufenden dritten Film der Trilogie, der dieses Mal »Before Midnight« heißt.

Wie in beiden vorausgehenden Teilen geht es weniger um eine Handlung, sondern um Dialoge über Liebe, Sex, Beruf und Partnerschaft. Jesse (Hawke) und Celine (Delpy) kennen sich in der Trilogie seit nunmehr 18 Jahren, haben inzwischen Zwillingsmädchen, sind aber nicht verheiratet.

Eigentlich sollte es ein romantischer Abend in einem Hotel werden, die Kinder sind bei Freunden gut versorgt und die Nacht kann beginnen. Schlag auf Schlag hingegen folgen Rede und Gegenrede, aus harmlosen Andeutungen werden leidenschaftliche Grundsatzdiskussionen und der Abend droht mit einem ernsthaften Zerwürfnis zu enden. Eine Tür fällt ins Schloss.

Aber es ist Sommer in Griechenland; es gibt ein kleines Hafencafé und der nächste Tag hat noch nicht begonnen. Verlieben, Liebe, Leben. Davon handeln die drei Filme. Ob die Bilder im Hafencafé die letzten sein werden, wird sich zeigen. Schade, um ein Paar, das so schön streiten kann.

Die Gute, die Böse und die Andere … Mutter Oberin

Von Friedhelm Denkeler,

Guillaume Nicloux: »Die Nonne« (»La Religieuse«) mit Pauline Etienne, Isabelle Huppert, Martina Gedeck

"Guillaume Nicloux mit Pauline Etienne, Isabelle Huppert, Martina Gedeck, Louise Bourgoin und Francoise Lebrun" (v.l.n.r.),  Foto © Friedhelm Denkeler  2013
Guillaume Nicloux mit Pauline Etienne, Isabelle Huppert, Martina Gedeck, Louise Bourgoin und Francoise Lebrun« (v.l.n.r.), Foto © Friedhelm Denkeler 2013

Um 1760 war die Säkularisierung noch weit weg und Denis Diderots Roman »Die Nonne« eine Kampfansage an die Kirche. Auch als 1966 Jacques Rivette den Diderot-Stoff verfilmte und in Cannes zeigte, gab es einen Skandal.

Heutzutage ist man versucht zu sagen, was hat das alles mit uns zu tun? Angesichts der bekannt gewordenen, sexuellen Übergriffe, die im Schutzraum der Kirche stattfinden, scheint das Thema doch sehr aktuell zu sein. Muss man aber heute, wenn man Frauen zeigt, die gegen Autoritäten rebellieren, unbedingt auf den Diderot zurückgreifen?

Dennoch, der Film bietet eine unerwartete Schönheit: Die Kamera fängt eine wahre Ästhetik wie in der Malerei ein: Halbdunkle Landschaftsbilder, karge klösterlichen Zellen, das Kerzenlicht, zeitlose Stillleben (die Schale Obst, der Teller mit Gebäck) und die reinen, ungeschminkten Gesichter der Novizinnen unter ihrer Nonnenhaube. Das kann man, wie die FR schreibt, auch als »visuelle Propaganda des Verzichts« sehen. Fazit: Ein zu langer (106 Minuten) und zwiespältiger Film, dessen Ästhetik angesichts der dunklen Machenschaften dennoch überirdisch schön ist.

Suzanne Simonin erzählt in Briefen ihre Lebens- und Leidensgeschichte: Als junge Frau wird sie von den Eltern gegen ihren Willen in ein Kloster gebracht. Sie soll Ordensschwester werden, da für eine standesgemäße Heirat die nötigen finanziellen Mittel fehlen.

Obwohl sie von einer gütigen und verständnisvollen Oberin in den klösterlichen Alltag eingeführt wird, bleibt ihr Freiheitsdrang bestehen. Als die Oberin stirbt, sieht sich Suzanne mit den Repressalien, Demütigungen und Schikanen der neuen Äbtissin und ihrer Mitschwestern konfrontiert. Für lange Zeit wird Suzanne Bigotterie und religiösen Fanatismus am eigenen Leib erfahren.

Denis Diderots Roman wurde bereits mehrmals verfilmt. Jacques Rivette drehte 1966 mit Anna Karina und Liselotte Pulver eine gewagte und kirchenkritische Adaption, die zeitweise von der französischen Zensur verboten wurde. Guillaume Nicloux konzentriert sich auf das Schicksal einer jungen Frau und auf ihren Kampf gegen ein unerbittliches System, das den Einzelnen zermalmt. Sein Film löst sich zunehmend aus den konkreten Umständen und wird zum zeitlosen Drama. [Quelle: Filmbeschreibung]

Gloria tanzt den Umberto Tozzi

Von Friedhelm Denkeler,

Sebastián Lelio mit »Gloria«, Chile/ Spanien

Gloria ist wie ein Bossa Nova – Schmerz, Lust, Harmonie. [Sebastián Lelio]

Dieter Kosslick hat eine Berlinale der starken Frauen angekündigt. Heute lernten wir zwei von ihnen kennen: abends Suzanne Simonin (gespielt von Pauline Etienne) in »La Religieuse« und am Nachmittag Gloria (gespielt von Paulina García) in dem chilenischen Film »Gloria«.

Mit Gloria hält das normale Leben Einzug in den Wettbewerb der Berlinale. Die Hauptdarstellerin Paulina Garcia hätte nach bisherigem Stand einen Silbernen Bären als beste Darstellerin verdient. Der alltäglichen Leere mit so viel Mut und Lebenslust zu begegnen; dem alternden Körper mit Witz und Phantasie entgegen zu treten, all das ist herrlich lebensbejahend inszeniert und gespielt.

Die wunderbare Schlussszene allein reicht für einen Preis bereits schon aus: »Mit einer charmanten Kombination aus Unsicherheit, Mut und Lebenslust« (FR) tanzt die 58-jährige Gloria nach Umberto Tozzis »Gloria«. Dafür und für den gesamten Film erhielt sie den größten, diesjährigen Beifall im Berlinale-Palast (bisher gab es eher reinen Höflichkeitsapplaus). Auf der Pressekonferenz ging es ähnlich zu: Paulina García erhielt Standing Ovations. Fazit: Unbedingt ansehen – wenn sich ein deutscher Kinoverleih findet.

"Sergio Hernández, Paulina García und Sebastián Lelio" (v.l.n.r.), Foto © Friedhelm Denkeler 2013
»Sergio Hernández, Paulina García und Sebastián Lelio« (v.l.n.r.), Foto © Friedhelm Denkeler 2013

Gloria ist 58 Jahre alt und geschieden. Die Kinder sind aus dem Haus, doch so ganz allein will sie ihre Tage und Nächte nicht verbringen. Dem Alter und der Einsamkeit trotzend, tobt sie sich gern auf Single-Partys aus, immer wieder auf der Suche nach dem schnellen Glück, das jedoch regelmäßig von einem Gefühl der Enttäuschung und Leere abgelöst wird. Bis sie Rodolfo kennenlernt, den sieben Jahre älteren ehemaligen Marineoffizier, mit dem sie sich eine romantische Liebesbeziehung, ja sogar eine dauerhafte Partnerschaft vorstellen kann.

Die Begegnung mit ihm wird für Gloria zu einer ungeahnten Herausforderung. Nach und nach sieht sie sich auch mit den verdrängten Geheimnissen ihres Lebens konfrontiert. Sebastián Lelio verdichtet seinen dritten Spielfilm zu einer Tragikomödie der fragilen Hoffnungen und schmerzlichen Gewissheiten.

Das Porträt einer starken Frau, die in den Strudeln widerstreitender Gefühle schließlich doch ihre Kraft und Souveränität zu behaupten weiß, entfaltet sich vor dem Hintergrund aktueller politischer Entwicklungen in Chile und bezieht auch die düsteren Kapitel in der Geschichte des Landes während der letzten 40 Jahre mit ein. [Quelle: Filmbeschreibung]

Sieben auf der Suche nach Gold – Nur eine kam durch

Von Friedhelm Denkeler,

Berlinale (V): Thomas Arslan: »Gold« mit Nina Hoss, Uwe Bohm

Das scheint die Berlinale der großen Dramen zu werden: Das polnische Homosexuellen-Drama angesichts der Kirche, das amerikanische Öko-Drama, das russische Bauern-Drama und heute Abend ein deutsches Einwanderungs-drama in Kanadas Nordwesten. Nicht, dass der Film »Gold« für den Goldenen Bären vorgesehen wäre; nein, die sieben Protagonisten sind auf dem Weg nach Dawson City, um Gold im Klondike River zu finden.

Thomas Arslan zeigte in seinen bisherigen Filmen das Leben junger Deutschtürken. Jetzt hat er seinen ersten historischen Film gedreht und dieses Mal sind die Deutschen die Migranten, die Einwanderer. Die Probleme stellen sich ihnen erst im Umgang mit der Natur. So spielt der Film überwiegend in den Wäldern, den Steppen und Bergen Kanadas und wenn sie Probleme mit Menschen haben, dann nur mit sich selbst und untereinander.

Ein Gemeinschaftsgefühl kommt in der Einwanderertruppe gar nicht erst auf. Das einzig verbindende Element ist der Wunsch nach Gold. Jeder ist für sich und redet wenig – genau wie im Western. Da passt die schweigsame und auf minimalistische Mimik beschränkte Nina Hoss bestens hinein. Natürliche Hindernisse stellen sich ihnen in den Weg, menschliche Schwächen erschweren das Weiterkommen. Die eigentlichen Bewohner der Region, die Bären, tauchen nicht auf, aber es gibt eine Bärenfalle und in diese tappt ausgerechnet der Journalist Gustav Müller, gespielt von Uwe Bohm, der außerordentlichen Spaß an seiner Rolle hat, hinein.

»Thomas Arslan und seine Hauptdarsteller«,  Foto © Friedhelm Denkeler 2013.
»Thomas Arslan und seine Hauptdarsteller«
Foto © Friedhelm Denkeler 2013

Arslan sieht seinen Film nicht unbedingt als reinen Western, es sind aber alle Elemente eines typischen Western vorhanden: Ein Mann hat ein dunkles Geheimnis (und wird von zwei Männern gejagt), einer ist der Verräter (ausgerechnet der Anführer), einmal geht ein schwarzer Mann (der Tod?) wortlos durch das Lager (aber von West nach Ost), die gesamte Gruppe besteht aus sieben Personen (»Die glorreichen Sieben«, »Die Sieben Samurai«), die herrliche Landschaft spielt eine große Rolle, nur Indianer waren wenige anzutreffen, die zudem noch friedfertig waren und gegen Geld den richtigen Weg wiesen.

Am Ende eines Westerns reitet in der Regel immer ein einsamer, übrig gebliebener Mann, gegen Westen in den Sonnenuntergang, heute Abend war es eine Frau: Nina Hoss als Emely Meyer. »Wir sind hier, um Filmen zu dienen, nicht um sie zu bewerten«, sagte der chinesische Regisseur Wong Kar Wai am Eröffnungstag der Berlinale, deshalb mein ehrliches Fazit: Mir hat der Film gefallen.

Kanada im Sommer 1898. Eine Gruppe deutscher Einwanderer macht sich mit Planwagen, Packpferden und wenigen Habseligkeiten auf den Weg in den hohen Norden. In Ashcroft, der letzten Bahnstation, brechen die sieben Teilnehmer auf. Mit ihrem Anführer, dem großspurigen Geschäftsmann Wilhelm Laser (Peter Kurth), wollen sie ihr Glück auf den neu entdeckten Goldfeldern in Dawson suchen.

Sie haben keine Vorstellung davon, welche Strapazen und Gefahren sie auf der 2500 Kilometer langen Reise erwarten. Unsicherheit, Kälte und Erschöpfung zerren an den Nerven der Männer und Frauen. Die Konflikte eskalieren. Immer tiefer führt sie der Weg in eine bedrohliche Wildnis.

Die Helden und Heldinnen des Berliner Regisseurs Thomas Arslan sind immer in Bewegung. Man lernt sie bei ihren Gängen durch ihren Alltag und durch ihr Leben näher kennen: den Gangster Trojan aus Im Schatten (Forum 2010) oder auch die aus der Türkei stammende junge Deniz aus Der schöne Tag (Forum 2001) und nun Emily. So gefährlich der Weg durch unerschlossenes Land ohne zuverlässige Karten auch ist – einer Sache ist sich Emily ganz sicher (Nina Hoss): Eine Rückkehr in ihr altes Leben kommt nicht in Frage. [Quelle: Filmbeschreibung] www.berlinale.de

Matt Damon »I’m not a bad guy« zwischen Energieautonomie und Umweltrisiko

Von Friedhelm Denkeler,

Gus Van Sant: »Promised Land« mit Matt Damon und Frances McDormand

Die Berlinale ist für ihre politischen Filme bekannt: Nachdem wir am Nachmittag einen Film über Homosexualität und Katholische Kirche gesehen haben, konnten wir vor dem Film »Promised Land« am Roten Teppich live die Demonstration einer deutschen Umweltgruppe gegen das »Fracking« erleben. Passend dazu gibt es am Samstag im Tagesspiegel den Artikel »Schwarz-Gelb will Fracking«“ erlauben. Aktueller geht es kaum.

"Stop Fracking",  Foto © Friedhelm Denkeler  2013
»Stop Fracking«, Foto © Friedhelm Denkeler 2013

Im Film wandelt sich Steve (Matt Damon), der Manager des Global-Konzerns, vom Saulus (fast) zum Paulus. Zunächst glaubt er an eine saubere, bessere (und reichere) Welt, die er den Farmern verspricht, wenn sie ihr Land an den Konzern verpachten und somit das Fracking erlauben würden. Das Geschäft läuft ganz gut an. Einwände werden als Spinnerei abgetan.

Nur der angereiste Umweltaktivist Dustin (John Krasinski) versucht, plakativ Stimmung gegen den Global-Konzern zu machen. Steve verliebt sich mittlerweile in die Lehrerin Alice, die aus der Stadt auf den Hof ihres verstorbenen Vaters zurück gekehrt ist. Sie und ein ehemaliger Mitarbeiter des MIT bringen Steve zum Nachdenken.

Das Ganze ist gut gemachtes, amerikanisches Kino, in dem der Held im Endeffekt doch der eigentliche Patriot ist. Matt Damon spielt glaubwürdig die Rolle als wachsender Zweifler an seinen eigenen Aussagen: „Ich bin kein böser Junge“ versichert er mehrmals. Zweifel am Umwelt-Aktivisten kommen trotz seiner Bruce Springsteen Karaoke-Einlage in der örtlichen Kneipe auf. Und das Ende ist dann auch ziemlich überraschend. Mir hat der kurzweilige Film gut gefallen. Meiner Begleitung weniger. Politisch korrekt allein ist ihr für die Berlinale zu wenig.

Steve Butler scheint eine große Karriere vor sich zu haben. Das versprechen ihm wenigstens seine coolen Chefs im edlen New Yorker Büro. In Wahrheit soll er das Unmögliche versuchen und mit seiner Kollegin Sue die Bewohner einer typischen amerikanischen Kleinstadt dazu bringen, die Förderrechte für das Erdgas unter ihrem Farmland an eine große Energiefirma zu verkaufen.

Mit der neuartigen Methode des Fracking sollen durch das Aufbrechen von Schieferschichten bislang unerreichbare Reserven tief in der Erde erschlossen werden. Butler überredet die Provinz-bevölkerung zur Aufgabe ihrer längst unrentabel gewordenen Farmen und verspricht märchenhafte Kaufpreise. Die Risiken der Fördermethode, bei der unkontrolliert gefährliche Chemikalien in den Boden gepresst werden, verschweigt er.

Doch er trifft auf Widerstand in der Bevölkerung. Zudem stellt ein Umweltaktivist bald das ganze Projekt in Frage. Steve, der selbst auf dem Land groß geworden ist und die Wahrheit kennt, muss sich entscheiden, auf welcher Seite er steht. Ist er Agent der Profit-interessen des Konzerns oder kehrt er zu seinen Wurzeln zurück? Ein Politthriller über einen ökologischen Gegenwartskonflikt.[Quelle: Filmbeschreibung]

Shigeru Umebayashi und das »Main Theme« aus »2046«

Von Friedhelm Denkeler,

Die Berlinale startet mit Wong Kar Wais »Grandmaster«

Foto © Friedhelm Denkeler 2011
Foto © Friedhelm Denkeler 2011

Heute Abend wird die Berlinale mit dem Kung-Fu-Epos »The Grandmaster« von Wong Kar Wai, der gleichzeitig der diesjährige Jurypräsident ist, eröffnet. Der Film läuft außer Konkurrenz. Karten für den Eröffnungsfilm gelangen naturgemäß nicht in den freien Verkauf. Aber zu Ehren des diesjährigen Jurypräsidenten und weil der Film alsbald im Kino zu sehen sein wird, habe ich die Filmmusik aus Wong Kar Wais Film »2046« aus dem Jahr 2004 herausgesucht: Shigeru Umebayashi: »2046 Main Theme«.

Das Stück gehört zu meinen Lieblings-Filmkompositionen. Bevor Shigeru Umebayashi Filmkomponist wurde, war er der Frontmann einer japanischen Rockband. Es existiert noch eine weitere Version dieses Titels »2046 Main Theme (Rumba Version)«. Außerhalb Asiens ist Umebayashi hauptsächlich durch seine Zusammenarbeit mit Wong Kar Wai bekannt geworden.

Zwischen tiefer Nacht und ewiger Dämmerung – Ein deutsches Melodram in Hammerfest

Von Friedhelm Denkeler,

Matthias Glasner mit »Gnade« mit Jürgen Vogel und Birgit Minichmayr

"Matthias Glasner, Birgit Minichmayr und Jürgen Vogel im Berlinale-Palast", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Matthias Glasner, Birgit Minichmayr und Jürgen Vogel im Berlinale-Palast«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Aller guten Dinge sind drei: Der gestern gesehene dritte deutsche Wettbewerbsbeitrag auf der Berlinale »Gnade« von Matthias Glasner war denn auch der beste von den Dreien (Christian Petzold mit Barbara, Hans-Christian Schmid mit Was bleibt).

Glasner erzählt eine Geschichte, die vom Anfang bis zum Ende stimmig ist und die, das ist gegenüber den anderen Filmen eher die Ausnahme, deutlich Stellung bezieht. Das ist mutig und provokant, in einer Zeit, wo man sich am liebsten hinter Anwälten versteckt und zu keiner eigenen Stellungnahme fähig ist.

Er führt die Zuschauer von der Dunkelheit ins Licht und dazu sind die herrlichen Landschafts-aufnahmen in der Dämmerung (teilweise aus größerer Höhe gefilmt) einprägsam und absolut stimmig. Selbst die Lichtstimmung im Haus, mit dem Blick aus dem Fenster in die Polarnacht, ist einmalig. Aber das muss man selbst sehen.

Jürgen Vogel und Birgit Minichmayr sind auf dem Höhepunkt ihres künstlerischen Schaffens und mit Henry Stange konnten wir einen weiteren großartigen Kinderdarsteller der diesjährigen Berlinale sehen. Matthias Glasner hat sich in seinem Drama „Der freie Wille“ (Berlinale Wettbewerb 2006) schon einmal ausführlich mit der dunklen Seite der menschlichen Seele beschäftigt. Diesmal allerdings findet er einen versöhnlichen Ausgang, der mit dem Wort „Happyend“ nur höchst unzureichend beschrieben wäre. Seelenfrieden wäre passender. Der Film liefert die Bilder, aber die eigentliche Arbeit findet im Kopf statt. Besser kann man einen Film nicht machen.

Der Film »steuert, ohne jemals zu übersteuern, in die Tragödie – und löst sie in einer stillen, kathartischen Szene auf, wie man sie so makellos im Kino lange Zeit nicht gesehen hat« schreibt DER TAGESPIEGEL und DIE ZEIT zieht folgendes Fazit: «Gnade ist ein hervorragend gespieltes Psychodrama, und man kann Glasner Anerkennung entgegen bringen für so viel Klarheit in dem Glauben an seine positive Utopie, dass Vergebung auch unter unwahrscheinlichen Umständen möglich ist.« Besser kann Kino nicht sein und einen Silbernen Bären müsste der Film erhalten, denn der Goldene geht erfahrungsgemäß an einen politisch brisanten Beitrag.

Hammerfest liegt am äußersten nordwestlichen Zipfel von Norwegen am Polarmeer. Zwischen dem 22. November und dem 21. Januar schafft es die Sonne nicht über den Horizont. Zwischen tiefer Nacht und ewiger Dämmerung träumt die Stadt in eisiger Kälte vor sich hin. Hierhin hat es ein deutsches Ehepaar mit seinem Sohn verschlagen. Niels arbeitet als Ingenieur in der größten europäischen Erdgasverflüssigungsanlage auf einer kleinen Insel vor Hammerfest. Maria ist mit ihm gegangen, um ihm seinen Karrieresprung nicht zu versperren. Sie ist Krankenschwester in einem Hospiz für Schwerstkranke. Nebenher züchten die beiden Schafe. Sie haben sich an die fremde, manchmal irreal erscheinende Welt der Nachtschattenspiele offenbar gut angepasst. Eines Tages wird Maria jedoch auf ihrer Heimfahrt in einen Unfall verwickelt. Sie hat etwas oder jemanden überfahren. Außerstande sich der Situation zu stellen, rast sie in Panik nach Hause. Im Fortgang des Geschehens kommen existenzielle Fragen auf. Kann man ohne Gnade und Vergebung leben? Ein kammerspielartiges Melodram in großen Kinobildern.
[Quelle: Filmbeschreibung] Filmtrailer

Was bleibt von Gitte, Günther, Marko, Tine, Jakob, Ella, Susanne und all den anderen?

Von Friedhelm Denkeler,

Hans-Christian Schmid mit »Was bleibt«

"Corinna Harfouch, Lars Eidinger und Hans-Christian Schmid im Berlinale-Palast", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Corinna Harfouch, Lars Eidinger und Hans-Christian Schmid im Berlinale-Palast«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Nun also der zweite von den drei deutschen Filmen des Wettbewerbs: Hans-Christian Schmid mit »Was bleibt«. Genau diese Frage stellt man sich am Ende des Kammerspiels auch! Wahrscheinlich nicht viel, denn Gitte (Corinna Harfouch) löst sich am Ende des Wir-treffen-uns-alle-mal-wieder-Heimfahr-Wochenendes einfach auf.

Die Probleme dieser Wochenenden im Rest der Republik kennen sicher viele zugewanderte Berliner. Man telefoniert einmal in der Woche und spricht dann über äußere Befindlichkeiten. Man sieht sich vielleicht zweimal im Jahr oder vielleicht auch nur zu Weihnachten. Und das reicht vollkommen, denn sehr harmonisch verlaufen diese Besuche meistens nicht. Die ältere Generation weiß von der jüngeren nicht wirklich, was sie beschäftigt. Keiner will sich eine Blöße geben. Die Verständigung wird immer mühsamer, man hat sich auseinandergelebt.

In einer der schönsten Szenen des Familiendramas singen Marko, Gitte und Günter »Du bist so komisch anzusehen … Ich kann dich einfach nicht mehr seh’n!« (Charles Aznavour). Die Art, wie die Drei dabei miteinander umgehen, ist symptomatisch für die Familie. Solche verdichteten Szenen hätte ich mir mehr von Schmid gewünscht. Da klang etwas, an den am Tag zuvor gesehenen Billy Bob Thornton und sein Jayne Mansfield’s Car, an.

Auch bei Schmid spielt, wie in Christian Petzold’s Barbara der Deutsche Wald eine zentrale Rolle: In einer weiteren guten Szene sucht Marko die verschwundene Mutter im dunklen Wald. Er stolpert, verletzt sich, schläft ein und träumt von seiner Mutter mit der nun am Lagerfeuer sitzt, sie sich unterhalten und verstehen.

Die Figuren bleiben schablonenhaft in ihren Rollen gefangen und vielleicht hätte Papa seinem Sohn schon eher den Geldhahn zudrehen sollen, dann hätte zumindest dieser, das wahre Leben eher spüren dürfen. Zuviel Trübsal auf hohem Niveau. Hans-Christian Schmid ist nach «Lichter», «Requiem» und «Sturm» nun bereits zum vierten Mal im Berlinale-Wettbewerb.

Marko ist Anfang dreißig und lebt seit seinem Studium in Berlin – weit genug entfernt von seinen Eltern Gitte und Günter, mit deren bürgerlichen Lebensentwurf er sich nie recht anfreunden wollte. Ein, zwei Mal im Jahr besucht er die beiden, in erster Linie um ihnen ein paar gemeinsame Tage mit ihrem Enkel, Markos fünfjährigem Sohn Zowie, zu ermöglichen. Marko hofft auf ein halbwegs ruhiges Wochenende in der Kleinstadt, doch es gibt Neuigkeiten: Gitte, die seit Markos Kindheit manisch-depressiv ist, fühlt sich nach einer homöopathischen Behandlung zum ersten Mal seit langer Zeit wieder gesund. Sie verzichtet auf ihre Medikamente und baut auf einen gemeinsamen Lebensabend an der Seite ihres Mannes, nicht ahnend, dass sie mit ihrer unerwarteten Genesung seine Pläne durchkreuzt. Auch Markos jüngerer Bruder Jakob und dessen Lebensgefährtin Ella stehen an einem Wendepunkt, denn Jakob richtet sich mehr und mehr auf ein Leben in Blicknähe zu seinen Eltern – vor allem zu Gitte – ein, Ella hingegen würde gern ihre beruflichen Pläne erst mal im Ausland weiterverfolgen. Markos Anwesenheit wirkt wie ein Katalysator, er provoziert die Konfrontation mit den unausgesprochenen Wahrheiten, die Fassade des harmonischen Familienlebens bröckelt. [Quelle: Filmbeschreibung] Filmtrailer

Von Oldtimersammlern, autoritären Vätern und Hippies in Alabama

Von Friedhelm Denkeler,

Billy Bob Thornton mit »Jayne Mansfield’s Car« mit Billy Bob Thornton, John Hurt und Kevin Bacon

 "Billy Bob Thornton mit seinem Film-Team im Berlinale Palast", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
»Billy Bob Thornton mit seinem Film-Team im Berlinale Palast«, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Billy Bob Thornton, der nicht nur Regie führte, sondern auch die Hauptrolle des Skip Caldwell in »Jayne Mansfield’s Car« übernahm, war für mich eine Neuentdeckung.

Seine Rolle als traumatisierter, arbeitsunfähiger Kriegsveteran spielt er in den hinreißend komischen Wendungen des Films bewundernswert gut. Dafür hat er einen Bären verdient.

Treffen eine englische und eine amerikanische Familie aufeinander, so ist eine Komödie gesichert. Wunderbar skurrile Einfälle wechseln sich mit melancholischen Momenten ab. Süßlich kitschige Farben der 1970er Jahre, der Sound dieser Zeit, Kostüme, Frisuren und Oldtimer ergeben ein rundum stimmiges, humorvolles Familiendrama. Fein beobachtet, werden die einzelnen Charaktere als Stellvertreter für ganze Generationen präsentiert. So kennt und liebt man eben nur seine Familie.

Und wie so oft, steckt auch viel Autobiographisches im Film. Seinem Filmvater hat Thornton ein makabres Hobby gegeben: Er hört zuhause den Polizeifunk ab und wenn ein Unfall passiert, fährt er an den Unfallort und inspiziert das Autowrack und die Toten. Thornton erzählte auf der Pressekonferenz, wie sein Vater ihn als Vierjährigen mit zu den Unfallorten genommen hat. Und auch den ausgestellten Unfallwagen von Jane Mansfield in einer Art Jahrmarktbude, mit dem sie unter einen Sattelschlepper geriet, hat er gegen Eintrittsgeld gesehen. Eine kunstgerechte Balance aus Trauer und Vergnügen, Kriegstraumata und rechtzeitigem Zurechtfinden in das Leben und die Zukunft. Schön!

Alabama, 1969. Jim Caldwell erfährt, dass seine Ex-Frau verstorben ist. Vor vielen Jahren hat sie ihn und die drei Kinder wegen eines Engländers verlassen. Ihre neue Familie, der Witwer mit zwei Kindern, will ihren letzten Wunsch erfüllen und sie in ihrer alten Heimat beisetzen. So treffen nicht nur die beiden Väter aufeinander, sondern auch die Stiefgeschwister. Jim ist ein typischer Vertreter der autoritären Generation, der seinen Kindern ein gerechter, aber kein liebevoller Vater war. Er muss nicht nur mit den Eskapaden seiner beiden Söhne zurecht kommen – der eine seit seiner Verwundung im Vietnamkrieg nur noch auf seine Autosammlung fixiert, der andere ein stets zu gedröhnter Antikriegs-Protestler – sondern auch mehr Toleranz für die ungebetenen britischen Gäste aufbringen, als ihm lieb ist. Oscarpreisträger Billy Bob Thornton erzählt in seiner ersten Regiearbeit seit „Daddy And Them“ (2001) davon, wie mit seinen männlichen Protagonisten unterschiedliche Kulturen und Generationen aufeinandertreffen – in einer Zeit, als der Vietnamprotest auch die Südstaaten erreicht. Der Film ist das erste englischsprachige Projekt des russischen Produzenten Alexander Rodnyansky (V SUBBOTU, Berlinale Wettbewerb 2011) [Quelle: Filmbeschreibung]

Die Liebe ist auch eine Himmelsmacht

Von Friedhelm Denkeler,

Spiros Stathoulopoulos mit »Metéora«

"Theo Alexander und Tamila Koulieva im Berlinale Palast", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
Theo Alexander und Tamila Koulieva im Berlinale Palast, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Das erwartet man nicht unbedingt von einem Film, der im Kloster spielt – die schönste Liebesszene, die in den letzten Jahren im Kino zu sehen war.

Diese Liebesgeschichte an sich, ist eigentlich unmöglich: In zwei von der Welt abgeschotteten Klöstern, die einander auf zwei Felsspitzen gegenüber liegen, lieben sich der Mönch Theodorus (Theo Alexander) und die Nonne Urania (Tamila Koulieva).

Die Geschichte des Paares erzählt Stathoulopoulos anhand der großartigen Landschaft in Thessalien mit den bizarren, hochaufragenden Felsen, die meistens halb im Nebel verborgen liegen und anhand der per Legetrick animierten Tafelbilder aus der christlichen Ikonographie.

Ausgangspunkt ist ein Triptychon mit den drei Hauptdarstellern: in der Mitte Metéora, links die Nonne und rechts der Mönch. Plötzlich bewegen sich die Figuren aus der Ikone heraus, verirren sich in einem Labyrinth und finden über eine Sintflut aus dem Blut Christi wieder zueinander.

Natürlich fragt man sich am Ende des Films, ob in der heutigen, aufgeklärten Zeit solche Bilder mit archaisch/ religiösen Motiven wie Selbstkasteiung, Kreuzigung oder Häutung einer Ziege notwendig sind. Aber der ganze Film steuert auf den Liebesakt zu mit der alles entscheidenden Frage: Verzweifeln und Aufgeben oder die Liebe als höhere Fügung akzeptieren. Der Film hat einen Bären verdient.

Auf den Gipfeln imposant aufragender Sandsteinfelsen liegen die legendären Metéora-Klöster in Thessalien. Der Film erzählt die Geschichte zweier Klosterbewohner. Der griechische Mönch Theodoros lebt in spiritueller Einsamkeit mit den immer gleichen Gesängen und Ritualen. Das Refugium der Nonne, die im russisch-orthodoxen Kloster auf dem Felsen gegenüber lebt, ist so unzugänglich, dass sie sich mit einem Netz abseilen lassen muss, um den Boden zu erreichen. Theodoros, der zwischen seiner spirituellen Berufung und dem einfachen bäuerlichen Leben zu Füßen von Metéora hin- und hergerissen ist, fühlt sich zu der Frau hingezogen. Der Regisseur erzählt die zarte Liebesgeschichte mit der Schlichtheit eines frommen Gedichts. Immer häufiger treffen sich die beiden, deren Liebe den Klosterregeln widerspricht. Dass die Liebe jedoch eine Himmelsmacht ist, der man sich fügen sollte – das wird in diesem fast dialogfreien Film wörtlich genommen. [Quelle: Filmbeschreibung] Trailer, Metéora-Klöster

Von der Freiheit zu gehen und der Freiheit zu bleiben

Von Friedhelm Denkeler,

Christian Petzold mit »Barbara«

Gestern Abend startete der erste von drei deutschen Filmen der Berlinale ins Rennen und vielleicht auch um einen der Bären – Christian Petzolds »Barbara«. Es ist ein handwerklich solider, schöner Film geworden, aber die Geschichte ist absehbar, einige Wendungen mehr hätten dem Film gut getan.

"Nina Hoss und Ronald Zehrfeld im Berlinale Palast", Foto © Friedhelm Denkeler 2012
Nina Hoss und Ronald Zehrfeld im Berlinale Palast, Foto © Friedhelm Denkeler 2012

Trotzdem: Der Film lebt von und mit der exzellent spielenden Nina Hoss. Viel Lob von den Kritikern. Ein Rätsel – das ist positiv gemeint – bleibt am Schluss: Wie kann man in einem untergehenden System leben, wie in solch einer Atmosphäre Menschen vertrauen? Hat man die Freiheit zu gehen oder zu bleiben überhaupt?

Vielleicht schlägt sich der Film auch mit zu vielen Klischees der DDR herum: Es herrscht eine Grund-Muffigkeit vor, sowohl bei den handelnden Personen, den Häusern und Straßen und der schlechten Ausstattung der Krankenhäuser. Oder war es wirklich so schlimm? Christian Petzold betonte in der Pressekonferenz allerdings mehrmals, es sei ihm nicht darum gegangen, die DDR zu rekonstruieren.

Die düsteren Landschafts-aufnahmen sind hervorragend gelungen. Die Szenen, in denen Barbara mit dem Fahrrad in der Abenddämmerung auf einem Feldweg, entlang vom Sturm gepeitschter Bäumen von der Klinik nach Hause fährt, werden in Erinnerung bleiben. Der Sehsinn wird geschult, aber auch der des Hörens: Petzold verzichtet auf Musik als reine Untermalung, auf den Klangbrei.

Der Film spielt in Mecklenburg-Vorpommern, gedreht wurde er aber in Kirchmöser, einem Ortsteil der Stadt Brandenburg an der Havel. Diese alte Arbeitersiedlung aus den 1920er Jahren steht heute unter Denkmalschutz und genau dort steht auch das Krankenhaus, das seit sieben Jahren nicht mehr benutzt wird und nun als Filmkulisse diente.

Sommer 1980 in der DDR. Die Ärztin Barbara hat einen Ausreiseantrag gestellt. Nun wird sie aus der Hauptstadt in ein kleines Provinzkrankenhaus strafversetzt. Jörg, ihr Geliebter aus dem Westen, bereitet ihre Flucht über die Ostsee vor. Barbara wartet. Die neue Wohnung, die Nachbarn, der Sommer und das Land, all das berührt sie nicht mehr. Sie arbeitet in der Kinderchirurgie unter Leitung ihres neuen Chefs André – aufmerksam gegenüber den Patienten, distanziert gegenüber den Kollegen. Ihre Zukunft fängt später an. André verwirrt sie. Sein Vertrauen in ihre beruflichen Fähigkeiten, seine Fürsorge, sein Lächeln. Warum deckt er ihr Engagement für die junge Ausreißerin Stella? Ist er auf sie angesetzt? Ist er verliebt? Barbara beginnt die Kontrolle zu verlieren. Über sich, über ihre Pläne, über die Liebe. Dann rückt der Tag ihrer geplanten Flucht näher. Nach „Gespenster“ (2005) und Yella (2007) stellt Christian Petzold seinen dritten Film im Wettbewerb der Berlinale vor. Wieder steht eine Frau im Mittelpunkt, die sich wie ein Phantom durch ihr eigenes Leben bewegt. Es ist ein Leben, in dem sich die Überwachung und die Angst davor tief in die menschlichen Beziehungen eingeschrieben haben. [Quelle: Filmbeschreibung] Trailer