Einen besonderen Bären hätte Spike Lees umwerfender neuer Film „Chi-Raq“ alle Male verdient, allein schon wegen der Musik: eine Art West Side Story mit Hip-Hop- und Beat-Rhythmen; leider lief er nur außer Konkurrenz.
Kurz zum Inhalt: Lysistratas (Teyonah Parris) Geliebter Chi-Raq (Nick Cannon) liefert sich mit seiner Gang Straßenschlachten mit der ebenfalls schwarzen Gang von Cyclop (Wesley Snipes).
Immer wieder gibt es Tote, diesmal traf ein Querschläger das kleine Mädchen Patti. Um dem Treiben endlich Einhalt zu gebieten trommelt Lysistrata die Girls aus beiden Lagern unter dem Schlachtruf »No peace, no pussy!« zusammen.
Wie es weitergeht, deutet der Name der Protagonistin an. In der bekannten Komödie des griechischen Dichters Aristophanes Lysistrata verschwören sich die Frauen gegen die Krieg führenden Männer; sie verweigern sich ihren Gatten, um den Frieden zu erzwingen.
Nach über zwei Filmstunden, die einem in den sehr engen Reihen des Friedrichstadtpalasts überhaupt nicht zu lang vorkamen, hatten die Frauen ihr Ziel erreicht; die Anführer der Gangs Spartaner und Trojaner unterzeichneten einen Waffenstillstands-Vertrag. Durch den gesamten Film führt Dolmedes (Samuel L. Jackson) als fiktiver Erzähler.
Chicago heißt im Film provokant Chi-Raq, weil dort genauso viele junge Schwarze ermordet wurden wie im gleichen Zeitraum in den Kriegen in Afghanistan und Irak: Zwischen 2001 und 2015 starben 7356 US-Soldaten durch Waffengewalt (die meisten waren schwarz), eine „nationale Notlage“ hat Spike Lee mit großen, roten Lettern am Anfang des Films mitteilt.
Er attackiert die Waffen- und Finanzlobby, die US-Regierung und die Gangsterbosse gleichermaßen. Chicagos Bürgermeister (im Film D.B. Sweeney als McCloud) passte der Titel nicht, er hatte sich mit Spike Lee im Vorfeld getroffen und bat um Änderung.
DER SPIEGEL schreibt: „Denn Chi-Raq ist ein wildes Experiment … das flammend (und zuweilen ein bisschen zu didaktisch) für Liebe, Humanismus und Gerechtigkeit plädiert und gleichzeitig so fett, dynamisch und groovy wie ein Rap-Track wirkt … Durchtrainierte, leichtbekleidete Männer- und Frauenleiber winden und gerieren sich lasziv zu Beats und Soulmusik, die Dialoge werden, ihrer klassischen Vorlage gerecht, gereimt“.
Auch die deutschen Untertitel waren von hoher Qualität, auch sie waren gereimt (sic!), was auf Experten aus der Hip-Hop-Szene schließen lässt. Der Film ist kein naturalistisches Schicksalsdrama, sondern eine »pralle, mit Witz, Satire und viel Musik angereicherte Variante von Lysistrata«. Fazit: sehr empfehlenswert, ein Top-Favorit von zehn bisher auf der Berlinale gesehenen Filmen; ganz einfach, weil er gänzlich aus dem Rahmen fällt.