Von einem Künstlerbuch spricht man, wenn es ein Künstler gemacht hat, oder wenn er sagt, es sei eines [Lucy Lippard, Kunsthistorikerin]
Um künstlerische Photographie auszustellen, braucht man einen Galerieraum, aber der Künstler hat auch die Möglichkeit, das Buch als Raum zu verwenden. Das heißt zunächst einmal als ›normales‹ Fotobuch, als Massenware. Dafür wird sich aber nicht unbedingt ein Sammler interessieren. Der Sammler bevorzugt bei Photographien den ›Vintage- Print‹, oft in schwarzweiß auf Barytpapier. Bei neuen Prints auf edlem Papier erwartet er eine geringe Auflagenhöhe. Originalkunst ist aber vielfach nicht für alle erschwinglich. Hier bieten sich für Sammler die Künstlerbücher an.
Künstlerbücher sind ein eigenständiges Genre der bildenden Kunst. Das reicht von wertvollen Luxusausgaben mit einer Originalgraphik bis zu limitierten Auflagen. Sie bewegen sich im Schnittpunkt von Büchern und Kunst, werden in der Regel vom Künstler selbst produziert und im Eigenverlag herausgegeben. Oft haben sie ein außergewöhnliches Format oder werden auf artfremdem Material gedruckt. Beim Buchobjekt handelt es sich oft um Unikate, ansonsten erwartet der Sammler eine limitierte Auflage, die vom Künstler nummeriert und signiert ist.
Künstlerbücher sind nicht unbedingt in Buchhandlungen oder Galerien zu finden. Künstler sind individuelle Zeitgenossen, die ihre Arbeiten meist nicht professionell vermarkten. Weil sie so selten sind und meist auch nur in kleinen Auflagen oder als Unikate erscheinen, werden bestimmte Künstlerbücher auch als »rare books« bezeichnet. Sie orientieren sich an gebundenen Büchern, aber auch andere Formen wie Leporellos oder Faltkarten auf Papier oder Drucke auf flachem, für den Druck geeignetem Material, sind möglich.
Natürlich könnte man ein Fotobuch als ›normales‹ Buch drucken und verlegen lassen, aber der Künstler hat hier nicht mehr die volle Freiheit bei der Gestaltung. Eine eher theoretisch hohe Auflage würde zu einem wirtschaftlichen Problem führen, da sich nur ein vergleichsweise niedriger Preis für das einzelne Exemplar erlösen ließe. Vorausgesetzt ist dabei stets, dass sich überhaupt ein Käufer findet, der Interesse an einem solchen ›Massenprodukt‹ hat; Ausnahmen sind die Bücher von prominenten Künstlern und/oder Bücher mit einem spektakulären Inhalt. Ideal ist eine Kombination von Ausstellung und Künstlerbuch, das in diesem Fall nicht als Dokumentation der Ausstellung anzusehen ist, sondern als eigenständiges Werk und als Ergänzung zu den ausgestellten Bildern.
Das Medium ›Buch‹ ist insbesondere für einen Fotografen interessant. Zum Konzept des Künstlerbuches gehört es, durch die Anordnung von zwei Photographien auf einer Doppelseite die Bilder in Beziehung setzen oder durch Umblättern eine Trennung darstellen zu können. Weiter kann der Autor die Reihenfolge der Bilder bestimmen und eine visuelle Geschichte erzählen. Damit ist klar, dass man ein Künstlerbuch nicht einfach durchblättern kann (schon gar nicht von hinten nach vorne!), sondern um das Wesentliche zu erkennen, muss man es von der ersten bis zur letzten Seite erfassen. Es ist eine neue Art von Kunst, die mit Hilfe der Buchstruktur, durch die zeitliche Abfolge des ›Lesens‹, überhaupt existent und wahrnehmbar ist.
Nun liegt nicht alles was ein Autor darstellen möchte als Bild vor, auch nicht in einer Reihe von Bildern. Hilfreich ist in diesem Fall die textliche Darstellung, das ›zwischen den Bildern‹ Liegende. In meiner Künstlerbuch-Reihe »Erinnerungen – Ein Leben in Bildern« liegen nicht für alle Erinnerungen Photographien oder Memorabilien vor; ein ausführlicher Text ergänzt die Bildfolge. Oder das Buch »Photographien – Die Harmonie eines Augenblicks« aus dem Jahr 1982, das aus Einzelbildern besteht und mit weniger Text auskommt. Natürlich geht es in erster Linie um Bilder und in einem guten Bild schwingt stets etwas mit, das sich nicht in Worte fassen lässt oder wie Susan Sontag es ausdrückt »Das wirksamste Element im Kunstwerk ist nicht selten das Schweigen«. Viele Worte oder Interpretationen sind dann nicht notwendig.
Seit 1989 produziere ich neben meinen Portfolios auch Künstlerbücher. Die ersten entstanden als »Bucharbeiten« und seit 2006 als »Künstlerbücher«; inzwischen sind über vierzig entstanden. Neue Portfolios und neue Bücher kündige ich in meinem »Journal – Berichte aus Berlin zu Photographie und Kunst« an und stelle sie auf meiner Website »Lichtbilder« ausführlich vor; da Künstlerbücher ein eigenständiges Medium sind, kann das nur ein unvollständiger Ersatz sein. Ausgangspunkt meiner Künstlerbücher sind – jedenfalls bisher – meine eigenen Portfolios mit Photographien. Diese Bilder sind als Serie als eigenständiges Werk anzusehen, als Beispiel sei das Portfolio »Tempelhofer Kreuz« genannt. Die Prints sind für eine Ausstellung und/oder einen Sammler produziert. Als Künstlerbuch entsteht aber ein eigenständiges Werk, auch wenn es zu einem Großteil aus den denselben Bildern besteht.
Das Buch mit den Bildern (und Texten) ist ein fassbares Objekt, man kann es aufschlagen, vorblättern (und zurück), spürt die Beschaffenheit des Papiers und sieht die Umschlaggestaltung und das Layout. Kurzum: Das ›Lesen‹ in einem Buch erfordert Disziplin, aber es wird durch die visuelle, haptische und eine gewisse emotionale Bindung an das Buch unterstützt. Bei gehobener Literatur muss man schon mal innehalten, nachdenken, in sich gehen, reflektieren. Und das scheint mit einem gedruckten Buch sehr viel besser zu gehen, als wenn man sich die Bilder digital ansieht. Kann man sich einen Sammler vorstellen, der Künstlerbücher digital sammelt? Das Künstlerbuch ist eine neue Art von Kunst, die mit Hilfe der Buchstruktur, durch die zeitliche Abfolge des Lesens, überhaupt existent und wahrnehmbar ist.
Wo findet man nun die raren Künstlerbücher? Sicherlich stellen die Künstler ihre Werke auf ihren Websites vor. Aber man muss sie in die Hand nehmen können, fühlen und ansehen; die Möglichkeit besteht zum Beispiel auf einer Künstlerbuch-Messe (die Frankfurter Buchmesse hat einen Bereich mit Künstlerbüchern, in Berlin gibt es zwei verschiedene Messen). Auch der direkte Kontakt zu den Künstlern bietet sich an. Künstlerbücher sammeln mittlerweile weltweit unterschiedlichste Museen, Bibliotheken und Sammlungen. Das »Museum für Kunst und Gewerbe« in Hamburg besitzt eine umfangreiche Sammlung von ca. 3.500, die »Hamburger Kunsthalle« 1.700, die »Bayrische Staatsbibliothek« 20.000 Künstlerbücher und über 5.000 die »Universität für angewandte Kunst« in Wien, die seit 1994 sammelt.
Als eines der ersten Künstlerbücher wird meistens »Twentysix Gasoline Stations« (1963) von Ed Ruscha erwähnt. Die Idee zum Buch bekam er auf seinen zahlreichen Fahrten von Oklahoma nach Kalifornien. Er fotografierte die Tankstellen an der berühmten »Route 66« und hatte dabei »das Gefühl, Kunst in einer ›kunstlosen‹ Ecke der Welt zu machen … Die Tankstelle war ein Funken Kultur«. Künstlerbücher spielten auch bei Martin Kippenberger eine große Rolle. In seiner nur 20-jährigen Karriere soll er an die 150 Bücher produziert haben. Michael Schmidt ging 2012 einen etwas anderen Weg. Zur Ausstellung »Lebensmittel«, unter anderem im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen, ließ er ein Buch produzieren, das er selbst gestaltet hat. Das fotografische Künstlerbuch setzt als limitierte Edition in der heutigen Zeit ein Zeichen gegen die Bilderflut in den sozialen Medien und auch gegen die Flut der Fotobücher ›von der Stange‹. Das Künstlerbuch entwickelt sich zum Sammelobjekt, da im Gegensatz zum fotografischen Abzug der Preis deutlich niedriger liegt. Es ist ein eigenständiges Werk des Künstlers und ergänzt oder ersetzt auch manchmal ein gehängtes Portfolio in der Galerie oder im Museum. Der Künstler kann eine komplexere Geschichte erzählen und aus mehreren Büchern ergeben sich die Zusammenhänge eines umfangreichen Œuvre.
Ich nenne meine Bücher »Bücher«, aber sie sind Teil meiner Kunst. Sie sind Seite für Seite genauso wichtig wie die anerkannten Künste Malerei und Bildhauerei. Die Bücher sind echte, gewichtige Kunst [Ed Ruscha]
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- Schwarzweiß hat viele Farben
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