Das unerbittliche Verfließen der Zeit

Von Friedhelm Denkeler,

Sofortbilder von Ursula Kelm im Hotel Bogota, Schlüterstraße in Berlin.

"Schwarze Maske", Polaroid SX-70", Foto © Friedhelm Denkeler 1988
»Schwarze Maske«, Polaroid SX-70, Foto © Friedhelm Denkeler 1988

Bis zum 07.11.2012 sind im Rahmen des Monats der Fotografie auf dem PHOTOPLATZ im Kabinett des Hotels Bogota Ursula Kelms Sofortbilder zu sehen. Joachim Rissmann, der Propriétaire des Hotels Bogota, ließ es sich nicht nehmen, zur Vernissage alle Besucher persönlich zu begrüßen. Freundlicher kann eine Ausstellungseröffnung nicht beginnen.

Neben Kelms SX-Polaroid-Fotos sind insbesondere die sogenannten Transferbilder zu erwähnen, auf denen Kelm die Polaroids vom Trägerbild gelöst und auf Seidenpapier aufgebracht hat. Diese Technik unterstreicht das Piktorialistische in ihren Fotografien und alltägliche Stadtansichten werden so zu traumhaften Inszenierungen.

Elisabeth Moortgat schreibt zu Ursula Kelms Bildern: »Kelms Photographie thematisiert in immer anderen Tonlagen das Spiel von Dauer und Vergänglichkeit. Auf besondere Weise also ein memento mori, Teilnahme an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit, Wandelbarkeit von beidem, dem Menschen und der Natur, der Photographin selbst… Weil Photographien eben diesen einen Moment herausgreifen und erstarren lassen, ihn fixieren im doppelten Sinne des Wortes, bezeugt die Photographin einmal mehr das Verfließen der Zeit.«

In dem hochherrschaftlichen Altbau in der Schlüterstraße 45 befand sich über zwei Etagen das Atelier der Fotografin YVA (Elisabeth Neuländer), bei der Helmut Newton 1936 seine Fotolehre begann. »Sie schlafen in heiligen Räumen«, sagte er, als er im Jahr 2002 Berlin das letzte Mal besuchte und im Bogota übernachtete. Dieses Zitat ist inzwischen zum Leitspruch des Hauses geworden. Joachim Rissmann setzt in seinem Hotel die fotografische Tradition des Hauses fort: Seit 1994 veranstaltet er mit seinem Photoplatz in mehreren Räumen wechselnde Fotoausstellungen, um die Erinnerungen an die Geschichte des Hauses lebendig zu halten. www.ursula-kelm.de, www.bogota.de

Neue Aufmerksamkeit für die Polaroid-Fotografie

Von Friedhelm Denkeler,

Künstler lieben die Polas – sie sind absolute Unikate

"Tulips", Foto © Friedhelm Denkeler 1985
»Tulips«, aus dem Portfolio Polaroid SX-70-Art Foto © Friedhelm Denkeler 1985

Als im Jahr 2008 das Unternehmen Polaroid das Ende der Produktion von Sofortfilmen bekannt gab, war dies scheinbar auch das Ende der analogen Sofortbild-Fotografie.

Vermeintlich hatte dies die Ausstellungsmacher im Jahr 2011 beflügelt, Sofortbilder zu präsentieren um ihnen eine neue Aufmerksamkeit zu schenken. Auch ich habe mir im letzten Jahr vier Schauen angesehen:

Horst Ademeit – Das Polaroid als Wundermittel gegen die Kältestrahlung

Sibylle Bergemann – Melancholische und magische Momente des Lebens

Helmut Newton – Das Unvollkommene am Perfekten

Cy Twombly – Schenkst der Rose Schweigen ein

Insbesondere hat die Übernahme des europäischen Teils der berühmten, zwischen 1970 und 1990 entstandenen Polaroid-Sammlung des Unternehmens Polaroid durch die Wiener Fotogalerie Westlicht mit 4400 Sofortbildern von 800 Künstlern Aufsehen erregt. 2011 zeigte die Galerie eine erste Überblicksausstellung mit rund 500 Werken.

Inzwischen gibt es wieder Sofortbildfilme unter der Marke [Im]possible zu kaufen. Sie werden in Österreich in einer alten Polaroidfabrik produziert. Das Material scheint noch nicht so gut geeignet zu sein, aber Künstler experimentieren bereits damit. Bedingt durch die technisch perfekten und überarbeiteten Digitalbilder, gibt es ein neues Interesse an Authentizität und Wirklichkeit, nach Unschärfe und falschen Farben. Aber es geht auch um Nostalgie.

Insbesondere die eigene, unvergleichliche Ästhetik der Polaroids, die die Farbigkeit und die Kontraste des fotografierten Gegenstandes unvorhersehbar verändert, macht die experimentelle Technik auch für den heutigen Betrachterblick interessant. [Kurator der Newton-Ausstellung].

Natürlich muss man auch sehen, dass durch die Digitalisierung das Konservieren der Foto-Arbeiten (insbesondere der Farbbilder) aus den 1960er und 1970er Jahren so erst ermöglicht wird. Trendgemäß habe ich mich mit den eigenen Polaroid-Fotos, die in den 1980er Jahren mit einer Polaroid SX-70 entstanden sind, beschäftigt.

Eine Auswahl von 92 Fotos ist mittlerweile eingescannt und ein Künstlerbuch ist erschienen. Eine Auswahl dieser Polaroids finden Sie auf meiner Website www.denkeler-foto.de. Anhand der geplanten drei Artikel wird es eine Übersicht über meine zwischen 1980 und 1990 entstandenen Polaroid-SX-70-Fotos geben.

Von der Blauen Stunde mit den Mohnblüten, über das Tango tanzen in der Neonzone bis zu den Eintrittskarten in die Nacht

Von Friedhelm Denkeler,

»Ungleich Nacht – Fotografien der Gruppe 97« in der Galerie im Saalbau

»Strandbar unter Palmen bei Nacht«, Foto © Friedhelm Denkeler 2010
»Strandbar unter Palmen bei Nacht«, Foto © Friedhelm Denkeler 2010

So stelle ich mir eine gute Gruppenausstellung vor: Sechs Fotografen zeigen ihre eigenständigen Portfolios mit einer gemeinsamen Blickrichtung, der Nacht. Und so passt der Titel Ungleich Nacht perfekt zu der sehenswerten Schau im Saalbau in der Neuköllner Karl-Marx-Straße.

Wenn dann die Bilder in den vier Räumen der Galerie auch vorzüglich gehängt und aufeinander abgestimmt sind, kann man nur noch die Empfehlung unbedingt ansehen aussprechen.

Auch von den Gästen der gutbesuchten Vernissage am letzten Freitag, auf der Barbara Maria Zollner die Arbeiten vorstellte, hörte ich nur Lobenswertes. Nun zu den Arbeiten:

Nachtleben, Ursula Kelm: Die Stunde zwischen Tag und Traum, Zeit des Übergangs, Dämmerung, l’heure bleue, die blaue Stunde ist ein romantisches Thema, das Ursula Kelm in ihrer aus Unikaten bestehenden Arbeit vorstellt. Neben SX-Polaroid-Fotos sind insbesondere die sogenannten Transferbilder zu erwähnen, auf denen Kelm die Polaroids vom Trägerbild gelöst und auf Seidenpapier aufgebracht hat. Diese Technik unterstreicht das Piktorialistische in ihren Fotografien und alltägliche Stadtansichten werden so zu traumhaften Inszenierungen.

Was ist, wenn ich’s nicht sehe, Susanne Czichowski: Die Mohnblüte und andere alltägliche Gewächse leuchten wie phosphoreszierend aus dem Dunkel, ätherische Erscheinungen vorm brandenburgischem Wochenendhaus der Künstlerin. Im Schein einer Taschenlampe aus der Hand fotografiert, enthüllen die Dinge – Gräser, der Fruchtstand einer Pflanze, Blätter im Wasser, eine Schnecke – ihre Beschaffenheit und ihr Eigenleben: Perlen von Saft, zarte Härchen auf sprödem Stiel, hauchfeine Panzerglieder – bizarr und kostbar.

Milonga veneziana, Frank-Rüdiger Berger: Mit Einbruch der Nacht treffen sich in Venedig auf der kleinen Piazza in San Polo die Bewohner, um Tango zu tanzen. Die Feuchtigkeit, die das Licht zerfließen lässt, verstärkt noch die eigenartige Wirkung von Frank-Rüdiger Bergers Tanzfotografien, die flüchtige Bewegungen in verwischten Figuren verewigt – Bewegungspuren aus Licht und Schatten in nächtlichem Laternenschein.

Zweierlei“, Barbara Oehler: Die Bilder der Serie Zweierlei sind Bilder von besonderer Nähe. Ihre Freundinnen, die Barbara Oehler hier fotografiert hat, tragen Masken – doch die Gesichtspflege-Masken überdecken nicht, sondern unterstreichen den persönlichen Ausdruck der Portraitierten, deren Blick zugleich in die Ferne wie nach innen gerichtet scheint, versonnen, wie unbeobachtet, aber bewusst – ein Paradox ebenso wie die Masken selbst.

Neonzone, Sylvia Forsten: Nächtliche Szenen, die Sylvia Forsten im Senegal und im Berliner Kiez mit dem vorhandenen Neonlicht aufgenommen hat „gleichen sich unterm Rotlicht, blauem Flimmern oder grünem Leuchten, bis mit Tagesanbruch der Glanz verblasst. Die Euphorie weicht der Tristesse, die Wirklichkeit wird fahl und grau. Manchmal kommt die Ernüchterung schon früher, in Kneipen vorm Morgengrauen trinken die Enttäuschten dagegen an“.

Eintrittskarten in die Nacht, Angela Kröll: Sammler heben gerne Eintrittskarten auf. Angela Kröll hat dies über 20 Jahre lang getan. Und wenn man dann auch noch gleichzeitig fotografiert und beides in Collagen in Originalgröße komponiert, entstehen neue Bilder. Jede dieser Eintrittskarten lohnt die genaue Betrachtung, denn sie erzählen eine kleine Geschichte, in die des Betrachters eigene Nachterlebnisse und -phantasien einfließen.

›Bei Nacht sind alle…‹ Bilder anders. Die Nacht zeigt nicht nur die andere Seite von Menschen, Landschaften und Gegenständen, sondern verstärkt sie – wo Licht ins Dunkel fällt – auch in ihrer Besonderheit. Dieser Nachtseite sind die sechs Berliner Fotografen der Gruppe 97, die seit 1997 existiert, in ganz unterschiedlicher Weise und mit verschiedenen fotografischen Techniken auf die Spur gegangen.

Alle Zitate sind von Barbara Maria Zollner, die mir dankenswerter Weise das Skript ihrer Eröffnungsrede zur Verfügung stellte. Schauen Sie sich selbst die vielfältigen Gesichter der Nacht noch bis zum 12. Februar 2012 in der Galerie im Saalbau in Neukölln an und gehen Sie am besten bei einbrechender Dunkelheit dorthin. Gruppe 97, Ursula Kelm, Barbara Maria Zollner

Das Polaroid als Wundermittel gegen die Kältestrahlung

Von Friedhelm Denkeler,

Horst Ademeit im geheimen Universum des Hamburger Bahnhofs

20 Jahre habe ich Polaroid und Digital / Fotos gemacht die Ränder vollgeschrieben / mir dadurch Luft gemacht über den / gesamten Ärger den mir das Wohnen / und das Stadtviertel Flingern in / Düsseldorf gebracht mit Strahlen-Kälte / Zerstörung Diebstahl Schmutz Abfällen / Rädern Sperrmüll Baustellen Autos / Gerüsten Abrissen und Neubauten auch / Gerichts-Prozess-Fluten ich im Ende / ein halbes Jahr mich im Krankenhaus befunden / die Wohnung aufgegeben diese Zeit / besiegelt ward somit / jetzt wo in Ruhe lebe fast ein Jahr / im Senioren Heim wird mir klarer / das ohne mein Ankämpfen gegen das / gesamte Elend mit Fotos und / Schreiben usw. Tätigkeiten ich kaum / Heil hätte überleben können mit / Dank an Herrgott Himmel und Erde [Horst Ademeit, Düsseldorf 2009]

Aus diesem Text von Horst Ademeit, der 1937 in Köln geboren wurde und 2010 gestorben ist, geht seine Lebens- und Leidensgeschichte vollständig hervor. Ein weiterer Kommentar zu seiner Arbeit, die noch bis zum 25. September im Hamburger Bahnhof, Berlin, zu sehen ist, wäre überflüssig.

"Tagebuch von Horst Ademeit", Foto © Friedhelm Denkeler 2011
»Tagebuch von Horst Ademeit«, Foto © Friedhelm Denkeler 2011

1990 kauft sich Ademeit eine Polaroidkamera und findet mit ihr seine Berufung. Für die nächsten anderthalb Jahrzehnte dokumentiert er mit Hilfe von Lebensmitteln, Thermometer, Lichtmesser, Feuchtigkeits-Messgerät, Kompass und Geigerzähler, die er täglich auf einer Tageszeitung als Datumsnachweis arrangiert, seine Aktivitäten zum Schutz vor der Strahlenbelastung.

Er fertigt 6006 solcher Tagesfotos an. Polaroid 5006 finden Sie hier. Zusätzlich dokumentiert er außerhalb seiner Wohnung anhand von Observationsbildern akribisch die Wirkungsmacht unsichtbarer Strahlen in seiner Umgebung.

Die Polaroids ergänzt Ademeit auf dem Rand mit komplexen handschriftlichen Notizen, Messwerten, persönlichen Beobachtungen und Nachrichtenmeldungen. Zusätzlich füllt er Kalender und Leporellos mit minutiösen Beschreibungen seiner Beobachtungen und des Tagesgeschehens. Die Schrift ist so klein, dass sie selbst mit der Lupe nicht zu entziffern ist (siehe mein Foto).

"Selbst mit Kügelchen von Horst Ademeit", Foto © Friedhelm Denkeler 2011
»Selbst mit Kügelchen von Horst Ademeit«, Foto © Friedhelm Denkeler 2011

Um sich vor dem Einfluss der Kältestrahlen (die es nicht gibt) zu schützen, trug Ademeit selbstgedrechselte kleine Holzkügelchen am Körper, die eine Größe von 8 Millimeter aufweisen, was der maximalen Weitung der menschlichen Pupille entspricht (siehe mein Foto).

2008 übersiedelt Ademeit in ein Seniorenwohnheim in Düsseldorf, wo er die rund 10.000 Polaroids einer Mitarbeiterin seines Vertrauens übergibt. Über den Arzt Dr. Behrends gelangen sie nach Köln in die Galerie Susanne Zander. 2009 werden die Polaroids erstmals dort ausgestellt.

Ademeit absolvierte eine Lehre als Anstreicher, studierte dann Textildesign und ging an die Kölner Werkkunstschule. 1970 war er kurz bei Joseph Beuys an der Düsseldorfer Kunstakademie immatrikuliert. Erste dokumentarische Fotos entstanden bei Renovierungsarbeiten in baufälligen Häusern. Seit Ende der 1980er Jahre konzentrierte er sich auf die Dokumentation der Kältestrahlen.

Ademeit absolvierte eine Lehre als Anstreicher, studierte dann Textildesign und ging an die Kölner Werkkunstschule. 1970 war er kurz bei Joseph Beuys an der Düsseldorfer Kunstakademie immatrikuliert. Erste dokumentarische Fotos entstanden bei Renovierungsarbeiten in baufälligen Häusern. Seit Ende der 1980er Jahre konzentrierte er sich auf die Dokumentation der Kältestrahlen.

Das fotografische Werk von Horst Ademeit wird in der neuen Ausstellungsreihe Secret Universe, die über drei Jahre angelegt ist, gezeigt. Hier sollen künstlerische Einzelpositionen, unabhängig vom etablierten Kunstbetrieb, vorgestellt werden. Es sind Künstler, die als „Outsider“ bezeichnet werden und die nicht dem Zirkel des Kunstbetriebes zugerechnet werden können, aber ein Werk mit starker bildnerischer Kraft geschaffen haben.

Als nächstes wird in dieser Reihe die Arbeit von Paul Laffoley vorgestellt. Er illustriert in seinen Diagrammen und Bildtafeln komplexe Theorien zur 4. und 5. Dimension, zu Zeitreisen, naturwissenschaftlichen und kulturhistorischen Themen (ab 4. November 2011). Das „Secret Universe“ verspricht eine spannende, mutige und ungewöhnliche Ausstellungsreihe in einem etablierten Museum zu werden.

Melancholische und magische Momente des Lebens

Von Friedhelm Denkeler,

»Sibylle Bergemann – Polaroids« in der C|O-Galerie im Postfuhramt in Berlin bis zum 4. September 2011

Mich interessiert der Rand der Welt, nicht die Mitte. Das Nichtaustauschbare ist für mich von Belang. Wenn etwas nicht ganz stimmt in den Gesichtern oder Landschaften. [Sibylle Bergemann]

"Keine Angst vor rot, blau, gelb", Polaroid SX-70, Foto © Friedhelm Denkeler 1987
»Keine Angst vor rot, blau, gelb«, Polaroid SX-70, Foto © Friedhelm Denkeler 1987

Dieses Zitat der Fotografin Sibylle Bergemann (Selbstporträt) gibt den persönlichen Anspruch an ihre künstlerischen Arbeiten wieder: Sie zeichnet in ihren Bildern die Melancholie und die magischen Momente des Alltäglichen auf. Das Polaroid-Material, insbesondere der SX-70-Film, kam ihr dabei entgegen: Die Bilder weisen oft einen Farbstich und einen leichten Schleier auf und man spürt die Patina der Originale, eben Polaroids. Es sind schöne Bilder, die aussehen als seien sie spontan entstanden, denen aber stets kompositorische Überlegungen vorausgingen. Sibylle Bergemann ist mit der Modefotografie groß geworden und das hat ihr Auge geprägt.

Der Tagesspiegel schreibt zu Bergemanns Bildern: »Unscharf sind auch etliche Polaroids – oft die schönsten – mit denen die Fotografin, diese so zurückhaltende wie unverwechselbare Ausnahme-Erscheinung der deutschen Fotografie, dem Betrachter noch einmal persönlich entgegentritt. Die Momentaufnahmen aus allen Schaffensperioden sind zum Teil Begleiterscheinungen ihrer Modefotografie, zum Teil Notate von Reisen und Reportagen, oft auch private Augenblicke, in der legendären Wohnung von Sibylle Bergemann und Arno Fischer am Schiffbauerdamm oder im stillen brandenburgischen Landhaus, im Garten, am Feldrand oder nur der Blick aus dem Fenster. Getragen von einem Grundton des Schwebend-Verträumten, sind es Einblicke in ein Märchenland, das vor der Haustür liegt oder im Nachbarsgarten, schon zur Entstehungszeit nicht ganz von dieser Welt, heute mehr denn je.«

Das Sofortbild an sich scheint zur Zeit ein kleines Revival zu erleben: Helmut Newtons Polaroids sind aktuell im Museum für Fotografie zu sehen (siehe Das Unvollkommene am Perfekten), letztes Jahr zeigte Julian Schnabel seine Polaroids in Düsseldorf, in Siegen werden ab dem kommenden Sonntag im Museum für Gegenwartkunst die vergrößerten Polaroid-Fotos von Cy Twombly ausgestellt, in Wien ist die historische Polaroid-Sammlung im Museum »WestLicht« zu sehen und jetzt Sibylle Bergemann bei C/O.

Aufschlüsse über einen Menschen finde ich in den Dingen, mit denen er sich umgibt. Der Mensch ist da, auch wenn er auf dem Foto nicht zu sehen ist. [Sibylle Bergemann]

Das Unvollkommene am Perfekten

Von Friedhelm Denkeler,

»Helmut Newton – Polaroids« im Museum für Fotografie in Berlin

"Tina 2", Polaroid SX-70, Foto © Friedhelm Denkeler 1990
»Tina 2«, Polaroid SX-70, Foto © Friedhelm Denkeler 1990

Nach längerer Pause gibt es zum Wochenende wieder einen Artikel: Nein, ich war nicht auf der Berliner Fashion Week oder bei Bread & Butter unterwegs, sondern habe mich anlässlich der zwei aktuellen Ausstellungen mit Polaroids von Helmut Newton und Sybille Bergemann in Berlin mit den eigenen Polaroid-Fotos, die in den 1980er-Jahren entstanden sind, beschäftigt. Eine Auswahl von 92 Fotos, Polaroids SX-70, ist mittlerweile eingescannt und ein Buch in Vorbereitung (siehe Portfolio Polaroid SX-70-Art)

Mein Zitat des Monats und die beiden Ausstellungen mit Polaroid-Fotos passen zur Modewoche in Berlin: Helmut Newton und Sybille Bergemann haben sich mit Mode beschäftigt. Zunächst zu Newton. Die Helmut Newton Stiftung im Museum für Fotografie, Berlin, zeigt noch bis zum 20. November 2011, aus Tausenden von Bildern ausgewählt, 300 Fotos. Zwei Polaroids habe ich herausgesucht: Shooting für die Zeitschrift Paris Match, Monte Carlo, 1985 und für den Stern, St. Tropez 1987.

Für Newton (1920 – 2004) waren die Sofortbilder mit handschriftlichen Ergänzungen eher Skizzen und Schnappschüsse aus seinen Mode-Shootings und dienten der Überprüfung der Bildkomposition und der konkreten Lichtverhältnisse. Diese Vorstudien seiner danach entstandenen perfekten Fotos zeigen eher das Unvollkommene: oft sind sie farbstichig, unscharf, überbelichtet oder verkratzt, aber sie weisen die Patina der Originale auf, eben Polaroids.

In der Ausstellung hängen allerdings nicht die originalen Sofort-Bilder, sondern großformatige, einschließlich des weißen Polaroid-Randes, aufgezogene Prints auf Alu-Dibond als Bildträger. Das charmant Unvollkommene, das Polaroid-Fotos ausmacht, ist aber im Großen und Ganzen erhalten geblieben. Eine Auswahl der „kleinen“ Unikate wird in zwei Vitrinen ausgestellt und lässt sich mit den aufgezogenen Prints gut vergleichen.

Als Newtons Polaroids 1992 erstmals in der Publikation „Pola Woman“ im Schirmer/Mosel Verlag vorgestellt wurden, reagierte die Presse eher verhalten bis ablehnend, heute werden sie auf den großen Kunstauktionen mit einem Preis von bis zu 25.000 Euro gehandelt.

»Auf den Probefotos kann man Eva Herzigova, Nadja Auermann, Monica Belluci und den anderen langbeinigen Superfrauen dabei zuschauen, wie sie zusammen mit dem Fotografen quasi ihre Fingerübungen vor dem eigentlichen Shooting absolvieren: In luxuriös-dekadentem Ambiente, angetan mit High-Heels, ansonsten meist spärlich bis gar nicht bekleidet, präsentieren sie in gewohnt provokantem Newton-Stil selbstbewusst ihre schönen Körper – manchmal mit ironischem Augenzwinkern und manchmal in ihrer Qualität kaum vom späteren Foto zu unterscheiden.« [FOCUS Online].

»Provokation gehört seit jeher zur Arbeitsweise Newtons, der auch in seinen Auftragswerken stets an die Grenze des Gewohnten führte. Durch seine provokanten und gleichzeitig höchst ästhetischen Motive hat er einen immensen Einfluss auf die Mode- und Aktfotografie ausgeübt, der bis heute ikonografisch nachwirkt.« [Handelsblatt].

Siehe auch meine Ausstellungsankündigung Helmut Newton – Polaroids am14. Juni 2011.

Helmut Newton – Polaroids …

Von Friedhelm Denkeler,

… in der Helmut Newton Stiftung im Museum für Fotografie, Berlin, bis zum 20.11.2011

"Lady In Red", Polaroid SX-70, Foto © Friedhelm Denkeler 1990
»Lady In Red«, Polaroid SX-70, Foto © Friedhelm Denkeler 1990

Anhand von über 300 Fotografien wird erstmals ein repräsentativer Überblick über Newtons legendäre Polaroids gezeigt. Seit den 1970er Jahren hatte er diese Technik intensiv genutzt, insbesondere während der Shootings für seine Modeaufträge.

Dahinter stand, wie Newton es selbst einmal in einem Interview nannte, das ungeduldige Verlangen sofort wissen zu wollen, wie die Situation als Bild aussieht. Ein Polaroid entspricht in diesem Zusammenhang einer Ideenskizze und dient zugleich der Überprüfung der konkreten Lichtsituation und Bildkomposition.

Aufschlussreich sind Newtons handschriftliche Ergänzungen an den Bildrändern der Polaroids: Kommentare zum jeweiligen Modell, Auftraggeber oder Aufnahmeort. Diese Anmerkungen, die Unschärfen und Gebrauchsspuren finden sich auch auf den Vergrößerungen der Polaroids innerhalb der Ausstellung; sie zeugen von einem pragmatischen Umgang mit den ursprünglichen Arbeitsmaterialien, die inzwischen jedoch einen autonomen Wert besitzen.

Insbesondere die eigene, unvergleichliche Ästhetik der Polaroids, die die Farbigkeit und die Kontraste des fotografierten Gegenstandes unvorhersehbar verändert, macht die experimentelle Technik auch für den heutigen Betrachterblick interessant. Insofern kommt die Ausstellung einem Blick ins Skizzenbuch eines der einflussreichsten Fotografen des 20. Jahrhunderts gleich. Viele der ikonischen Aufnahmen, die bereits zuvor in den Ausstellungsräumen der Helmut Newton Stiftung gezeigt wurden, werden durch die jetzige Ausstellung in ihrer Entstehung präsent. [Quelle: Presseerklärung].