Kreuzberg wie es einmal war …

Von Friedhelm Denkeler,

Siebrand Rehberg in der Collection Regard mit Berlin-Fotografien der frühen Siebzigerjahre.

Die Fotografien … sind eine echte Entdeckung. Sie setzen die Tradition des flanierenden Fotografen fort und lassen uns den Wandel Kreuzbergs in den 70er Jahren nacherleben [tageszeitung TAZ].

Er war einer der ersten Schüler von Michael Schmidt, noch bevor dieser die legendäre »Werkstatt für Photographie« in Kreuzberg ins Leben rief: Siebrand Rehberg. Rehberg fotografierte in den 1970er Jahren, wie sein Lehrer, zunächst hauptsächlich in seinem Wohnbezirk Berlin-Kreuzberg (das frühere SO 36 wurde auf drei Seiten von der Mauer fast eingeschlossen). Im Gegensatz zu Schmidts damaligen Stadtlandschaften, bewegte er sich auf der Straße zwischen den Menschen und hielt diese einfühlsam in seinen Fotografien fest. Die Originale sind jetzt zum ersten Mal öffentlich in der Collection Regard unter dem Titel „BERLINER. Signale des Aufbruchs – Siebrand Rehberg – Fotografien 1971 – 1976 “ zu sehen.

»BERLINER. Signale des Aufbruchs – Siebrand Rehberg – Fotografien 1971 – 1976« in der Collection Regard; Foto © Friedhelm Denkeler 2014
»BERLINER. Signale des Aufbruchs – Siebrand Rehberg – Fotografien 1971 – 1976« in der Collection Regard; Foto © Friedhelm Denkeler 2014

Die Alltagsszenen hielt Rehberg in beeindruckenden Bildern fest: Kinder spielen auf einem VW-Käfer-Wrack im Engelbecken-Hof; ein Seil hüpfendes Mädchen spielt an der Mauer am Leuschnerdamm; der für die Urlaubsreise in die Türkei vorgesehene VW-Bus am Fraenkelufer wird bepackt und zusätzlich werden die Koffer mühselig auf dem Dach festgezurrt; eine Kiosk-Besitzerin posiert mit ihren Kunden am Schlesischen Tor oder ein Trupp von Ostberliner Grenzsoldaten repariert, unter Bewachung von Westberliner Polizisten, die Mauer an der Heidestraße.

Bereits in den 1970er Jahren spielte sich ein Teil des Lebens öffentlich in den Straßen Berlins ab. Die Gastarbeiter, wie sie damals genannt wurden, brachten ihre Kultur mit nach Deutschland und insbesondere nach Berlin-Kreuzberg. Die Fotografie „Görlitzer Straße“ hält dies bemerkenswert fest: Zwischen den beiden Hauseingängen, in denen jeweils ein türkisches Ehepaar getrennt sitzt, spielen Kinder und ganz am Rande des Bildes verfolgt eine deutsche Hausfrau das Geschehen hinter der Gardine.

Rehberg zeigt aber auch Berliner Stadtlandschaften in West und Ost: ein riesiges Brennnessel-Feld an der Mauer; ein Zeitungskiosk am Görlitzer Bahnhof, voll gepflastert mit Zeitschriften der Regenbogen-Presse; der Wochenmarkt am Winterfeldplatz, auf dem Wolfgang Menge gerade einkauft; eine neue Hochhaussiedlung an der Lindenstraße; ein startendes Flugzeug über dem Friedhof Neukölln und immer wieder Bilder mit der Mauer und dem Todesstreifen, zum Beispiel an der Oderberger Straße.

Die 1970er Jahren leiten den sogenannten Aufbruch ein und Rehberg zeigt die Zeit vor den kurz bevor stehenden Umbrüchen. Ein Zeitzeugnis, wie wir heute nach vierzig Jahren konstatieren können. Erik Steffens stellt im Katalog fest: „Das Aufkommen neuer sozialer Bewegungen setzt Siebrand Rehberg immer indirekt ins Bild, sein Interesse liegt vor allem an den Menschen. Ihnen begegnet er mit Respekt und Neugier, lässt ihnen ihre Würde.“

Siebrand Rehbergs Straßenfotografien haben mich auf Anhieb überzeugt, denn er hat es geschafft, einen sehr breiten Teil der Kreuzberger und Berliner Gesellschaft eindrucksvoll und einfühlsam einzufangen. Er liefert uns mit hohem fotografischem Können ein wunderbares Zeitdokument von Menschen aller Schichten, sowohl aus West- als auch Ost-Berlin. [Der Sammler Marc Barbey]

Kreuzberg wie es einmal war, heute ist es Geschichte. Die Ausstellung, die von Antonio Panetta kuratiert wurde,  findet im Rahmen des Monats der Fotografie in Berlin statt. Dieser ist zwar inzwischen beendet, aber viele Ausstellungen laufen bis Januar 2015 weiter. Die Ausstellung von Siebrand Rehberg gehört zu den sehenswerten fotografischen Arbeiten in diesen Wochen in Berlin. Die Ausstellung in der Collection Regard des Sammlers Marc Barbey ist noch bis zum 12.12.2014 zu besichtigen (wird hoffentlich verlängert). Im Nicolai-Verlag ist das Buch von Siebrand Rehberg Signale des Aufbruchs – Berlin-Fotografien der frühen Siebziger Jahre als Katalog erschienen. Collection Regard | Fotostrecke mit 20 Bildern auf Spiegelonline

Anspruch und Wirklichkeit im Martin-Gropius-Bau

Von Friedhelm Denkeler,

Monat der Fotografie 2014 in Berlin

Im Berliner Martin-Gropius-Bau ist zurzeit die zentrale Gruppenausstellung Memory Lab: Die Wiederkehr des Sentimentalen unter dem Motto Fotografie konfrontiert Geschichte anlässlich des Monats der Fotografie (MdF) 2014 zu sehen. Die Kuratoren fragen: »Wie werden geschichtliche Ereignisse, wie werden kulturelle Besonderheiten und deren Veränderungen oder soziale Verhältnisse heute von Fotografen und Künstlern, welche sich der Mittel von Fotografie und Video bedienen, dargestellt? Wie wird die Distanz zwischen damals und heute, zwischen aktuellen Lebensverhältnissen und dem Gegenstand des Interesses, fotografisch konstruiert und welche Wirklichkeit entsteht dabei? Wie wird Erinnerung formuliert und dem Vergessen entgegengewirkt?«

"Zelle 235" (Untersuchungshaftanstalt  der Stasi in Berlin-Hohenschönhausen), Foto © Friedhelm Denkeler 2009
»Zelle 235«, Untersuchungshaftanstalt der Stasi in Berlin-Hohenschönhausen, Foto © Friedhelm Denkeler 2009

Wir sehen in der Schau weniger Fotojournalismus, dokumentarische Fotografie oder reine Fotografie (Straight Photography), sondern essayistisch arbeitende Künstler, die in Serien und mit filmischen Mittel inszenieren, oder theatralische Effekte nutzen und manchmal auch mit Spielereien fotografisch agieren. Zwischen dem Anspruch der Kuratoren und ihren Texten in der Ausstellung und der Wirklichkeit der gezeigten Werke klafft aber oft eine größere Lücke. Fünf von 17 ausgestellten Arbeiten möchte ich hier vorstellen.

Mitten in einem der acht großen Ausstellungsräume hat Nasan Tur eine Zelle der ehemaligen Stasi-Untersuchungs-Haftanstalt Bautzner Straße 112, Dresden, nachgebaut und an die Wände über ein Dutzend Fotografien von geschlossenen Metalltüren in beiger, leicht vergilbter Farbe gehängt. Die 1,90 x 3,40 Meter große Zelle (hier waren zwei Menschen inhaftiert) lösen beim Besucher ein Gefühl von Enge und Machtlosigkeit aus, obwohl hier die Zellentür offen steht.

Andreas Mühe zeigt seine bereits bekannte Serie Obersalzberg. Durch groß aufgezogene Nachinszenierungen der Fotos von Walter Frentz, dem Kameramann von Leni Riefenstahl, versucht er den propagandistischen Teil der Fotos vom Hitler-Fotografen Walter Frentz darzustellen, zeigt aber auch gleichzeitig die Faszination, die diese Bilder damals wie heute haben. »Der Betrachter ist verantwortlich für das, was in seinem Kopf passiert, nicht der Photograph« sagte Mühe in einem Interview dazu.

Zu empfehlen ist die sehenswerte, 20-minutige Videoarbeit Scopophilia von Nan Goldin. In dieser Arbeit konfrontiert Goldin ihre eigenen, persönlichen Bilder von Freunden mit Fotos von Gemälden aus dem Louvre. Dabei stellt sie »Gesten und Posen, Haltungen und Gebärden gegenüber und entwickelt so eine Ästhetik der Nähe …, die sie in der Malerei und Skulptur ebenso wiederentdeckt, wie in den Augenblicken des Entstehens ihrer eigenen Werke«.

Erwin Olaf ist mit der Serie Berlin vertreten. Er hat in den ehemaligen Sportstätten der Olympischen Spiele 1936 und im Logenhaus Berlin sonderbare Gegenstände und Personen, die in eine dunkle, historisierende Einfarbigkeit (bräunlich) getaucht sind, fotografiert. Die Fotos weisen, bedingt durch die Pigmentdrucke (Carbon Prints), einen fantastischen ›Sound‹ auf.

"Untersuchungshaftanstalt  der Stasi in Berlin-Hohenschönhausen", Foto © Friedhelm Denkeler 2009
»Untersuchungshaftanstalt der Stasi in Berlin-Hohenschönhausen«, Foto © Friedhelm Denkeler 2009

Wie Anspruch und Wirklichkeit auseinander driften kann man anhand Pablo Zuleta-Zahrs Arbeit Puppies in Torture Chambers gut sehen. Eine Schulklasse ist in die Kellergewölbe eines ehemaligen, geheimen Untersuchungsgefängnisses der chilenischen Junta gestiegen und Zuleta-Zahr fotografiert in Schnappschüssen mit langen Belichtungszeiten das Erkunden der Gewölbe durch die Kinder. Die Aufnahmen hätten überall auf der Welt in einem Abbruchhaus stattfinden können. Der Anspruch, die Aufregung und den Schock der Kinder zu zeigen, ist in den verwischten, schwarzweißen Bildern nicht zu erkennen; nur aufgrund des begleitenden Textes lässt sich eine Verbindung herstellen. Die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau ist noch bis zum 15.12.2014 zu besichtigen.

Ulrich Wüst – Mitte, Morgenstraße und fremdes Pflaster

Von Friedhelm Denkeler,

Die Ausstellung »Übergänge« in der Loock Galerie in der Potsdamer Straße präsentiert Ulrich Wüst mit drei Werkgruppen, die in Berlin im ›alten‹ Bezirk Mitte (1995 -1997), in seiner Geburtsstadt Magdeburg (1998-2000) und auf ›fremdem Pflaster‹ in Köln (2004-2005) entstanden sind. Alle drei Städte sind durch die Zerstörungen des letzten Krieges stark in Mitleidenschaft gezogen worden und die Auswirkungen sind bis heute direkt oder indirekt im Stadtbild zu erkennen.

In der Serie »Mitte« geht Wüst, bevor die massiven Umgestaltungspläne für das Zentrum Berlins in die Tat umgesetzt werden, noch einmal durch den Bezirk und fotografiert den Abriss einer alten und den Aufbau einer fast ›neuen‹ Stadt. In der Morgenstraße in Magdeburg hat Wüst die kurz vor dem Verfall stehende Industriearchitektur mit ihren Backsteinfabriken und Schloten noch einmal im Bild festgehalten. Dagegen sind in Köln die Kriegslücken längst gefüllt, aber man ahnt sie dennoch; die ›neuen‹ Häuser strahlen den Charme (oder Un-Charme) der 1950er und 1960er Jahre aus – eine Stadt zwischen Tradition und Wiederaufbau zur Zeit des Wirtschaftswunders.

»Ulrich Wüst in der Loock Galerie« (Ausstellung: »Übergänge«, hier: Magdeburg), Foto © Friedhelm Denkeler 2014
»Ulrich Wüst in der Loock Galerie« (Ausstellung: »Übergänge«, hier: Magdeburg), Foto © Friedhelm Denkeler 2014

Ulrich Wüsts Fotografie folgt auch einem klaren Bildprinzip. Es ist ausformuliert, in den Kompositionen bis ins Detail durchdacht und im Wortsinn architektonisch – auch und gerade dann, wenn die Aufnahmen Un-Architektur abbilden. Im Spektrum gegenwärtiger Möglichkeiten einer sachlich-künstlerischen Fotografie, wie sie in Deutschland seit den 70er Jahren vor allem durch die Schule von Bernd und Hilla Becher geprägt wird, stehen diese Bilder ohne direkten Vergleich. [Matthias Flügge]

Die Fotos sind von Wüst exzellent auf 18×24 cm großem Baryt-Papier abgezogen und werden hinter Glas und im Passepartout in 30×40 präsentiert. Ulrich Wüst, 1949 in Magdeburg geboren, lebt und arbeitet seit 1972 in Berlin. Die Ausstellung findet im Rahmen des Monats der Fotografie in Berlin statt und sie gehört zu den sehenswerten fotografischen Arbeiten in diesen Wochen in Berlin. Die Ausstellung in der Loock Galerie ist noch bis zum 20.12.2014 zu besichtigen. Ulrich Wüst | Loock Galerie

After Walker Evans after Wolfgang Vollmer

Von Friedhelm Denkeler,

Dass ich mich in meiner Arbeit über die Kunstwelt lustig mache, heißt nicht, dass ich meine Arbeit nicht ernst nehme [Sherrie Levine, Konzeptkünstlerin (Appropriation Art)]

Gestern Abend zitierte Christine Frisinghelli, Graz, die Künstlerin Sherrie Levine am Ende ihrer Einführung zur Ausstellungseröffnung von Wolfgang Vollmer, Köln, in der oca Gallery in der Potsdamer Straße. Und diese Worte charakterisieren die Arbeiten Meisterwerke der fotografischen Kunst – Die Sammlung Vollmer – 175 Jahre Erfindung der Fotografie sehr treffend.

Sherrie Levine wurde mit ihrer aneignenden Arbeit After Walker Evans berühmt: Sie fotografierte aus Evans Bildbänden Fotos ab und stellte sie unter ihrem Namen aus. Inzwischen hat ein Michael Mandiberg (sozusagen ein Appropriationist der zweiten Generation) wiederum Levines Kopien abfotografiert und als After Sherrie Levine veröffentlicht. Das reizte natürlich auch Wolfgang Vollmer: Er schuf ein Foto, das in der Ausstellung wie folgt beschrieben ist: »Unbekannter Fotograf. Original-Reproduktion einer Foto-Arbeit von Louise Lawler, Sammlung Eaine Stuyvsant, 1995 mit After Walker Evans von Sherry Levine, 1981, hier: Walker Evans, Penny Picture Display, 1936, 2014. Das Original von Walker Evans ist übrigens zurzeit im Martin-Gropius-Bau zu sehen.

»Will man herausfinden, wie etwas funktioniert, gibt es ein probates Mittel – man zerlegt es. Man versucht ein Drei-Männer-Porträt vor einer weiten Landschaft zu verstehen – man findet drei Männer, eine weite Landschaft und stellt sie wie in der Vorlage auf. (Gemeint ist hier das berühmte Foto Drei Jungbauern auf dem Weg zum Tanz von August Sander. Anmerkung F.D.) Und dann erkennt man, dass einige Elemente Wirkung haben, andere nicht. Am Ende weiß man, wie jedes Detail dieser Fotografie wirkt, weil man jedes Detail in der Hand hatte. Man hat die Szene durchlebt (Reenactment), hat sie sich angeeignet (Appropriation), hat sie nachgeahmt (Mimikry). Will man also herausfinden, wie etwas funktioniert, gibt es ein probates Mittel, man setzt es wieder zusammen [Wolfgang Vollmer].

»Wolfgang Vollmer vor ›Fotografien des Committee of Unknown Planes (CUP)‹ in der oca Gallery«, Foto © Friedhelm Denkeler 2014
»Wolfgang Vollmer vor ›Fotografien des Committee of Unknown Planes (CUP)‹ in der oca Gallery«, Foto © Friedhelm Denkeler 2014

Die Sammlung Vollmer begann vor 30 Jahren als Sammlung Tillmann und Vollmer. In der Werkstatt für Photographie in Kreuzberg sahen wir zur Vernissage am 20. September 1985 erstmals diese Bilder. Inzwischen hat Vollmer seine Serie alleine weiter geführt; etwa ein Viertel der ausgestellten Arbeiten stammt noch aus der Ursprungs-Sammlung.

Die Ausstellung läuft nicht offiziell unter dem Logo des Monats der Fotografie in Berlin, aber sie gehört ganz sicher zu den sehenswerten fotografischen Arbeiten dieser Wochen in Berlin. Die Ausstellung in der oca Gallery ist noch bis zum 29.11.2014 zu besichtigen. Wolfgang Vollmer.

Fotografiert ruhig weiter, aber verletzt euch nicht dabei! [Martin Kippenberger, zitiert von Bernd Dicke in der Zeitung Meisterwerke der fotografischen Kunst, die zur Ausstellung erschienen ist.]