Rätselhaft, surreal, fantastisch – Der neue Film von Leos Carax: »Holy Motors« lässt an Wim Wenders und Eugène Atget denken
Celine, wir müssen unbedingt noch lachen vor Mitternacht. – Wir werden es versuchen, Monsieur Oscar. – Wer kann schon sagen, ob wir mal im Jenseits lachen? [Filmzitat]
Auf meinem Foto fährt eine schwarze Stretch-Limousine über den Pariser Platz in Berlin; in Leos Carax aktuellem Film »Holy Motors« ist es eine weiße Stretch-Limousine, die einen ganzen Tag lang kreuz und quer durch Paris fährt. Carax, der mit seinem wunderbaren Drama »Die Liebenden von Pont-Neuf« 1991 für Furore sorgte, hat einen eher kleinen Film gedreht, mit dem er all die Realität liebenden Zuschauer alleine lässt. Für die Anderen aber schafft er eine rätselhafte, noch lange nachwirkende Verzauberung. Ein Film, der anstatt mit Worten fast nur mit Bildern kommuniziert – jeder muss sich selber einen Reim darauf machen.
Denis Lavant schlüpft in »Holy Motors« als Monsieur Oscar in elf mysteriöse, surreale Rollen, in denen er jeweils einen „Auftrag“ erledigen muss: Seine erste Rolle, ist die eines Bankiers, der morgens auf dem Weg zur Arbeit seine Kinder verabschiedet. Dann steigt er in die Limousine und seine Chauffeurin Celine (Edith Scob) hat in einer Mappe bereits seinen nächsten Auftrag vorbereitet: Er muss eine blinde Bettlerin auf der Pont-Neuf spielen. Zu spielen wäre aber zu einfach gesagt, Oscar ist jeweils die ihm zugeteilte Rolle. Irgendwann einmal erinnert der Film auch an Wim Wenders‘ „Der Himmel über Berlin“.
Zwischen seinen verschiedenen Identitäten nutzt Oscar die fahrende Limousine, die mit Masken, Perücken und Schminktischen ausgestattet ist, als Arbeitsplatz, um sich auf kommende Rollen vorzubereiten. Er macht genau das, was Schauspieler, seit es sie gibt, machen: Das Leben imitieren.
In der verrücktesten Szene tobt Oscar als haariges Schreckgespenst über den berühmten Pariser Friedhof Père-Lachaise: Er reißt Blumen von den Gräbern, auf denen „Visit my website“ steht, beobachtet ein Mode-Shooting und entführt das Model (Eva Mendes) in die Unterwelt, in die Kanalisation.
Alle Szenen Oscars will ich hier nicht verraten, aber die zwei schönsten möchte ich noch erwähnen: Da ist zum einen die Szene in der Oscar einen Akkordeonspieler darstellt. Er zieht durch das alte Paris und immer mehr Akkordeonspieler gesellen sich dazu. Unwillkürlich erinnern mich die Häuser und Plätze an „Das alte Paris“ von Eugène Atget.
Ähnliche Gefühle stellen sich ein, wenn Denis Lavant, gemeinsam mit seiner ehemaligen Geliebten (Kylie Minogue) durch das alte, leergeräumte Kaufhaus Samritaine wandert und Kylie ihm das zu Tränen rührende, tröstende Lied „Who Were We?“ singt. Welcher Film kann in diesem Jahr mit der puren Lust am Erzählen „Holy Motors“ das Wasser reichen?
Auch Michel Piccoli hat als Mann mit dem Muttermal einen Gastauftritt: Er scheint der Vertreter jener geheimnisvollen Organisation zu sein, die die „Aufträge“ vergibt und er sorgt sich um die Gesundheit von Oscar. In der Schlussszene fahren nach getanerer Arbeit, pünktlich um Mitternacht alle Stretch-Limousinen der Stadt in eine gemeinsame Garage, über der die Leuchtschrift „Holy Motors“ flackert und tatsächlich: die Limousinen palavern per Blinkzeichen miteinander – und sie beten. Amen.
Der Film ist eine Hommage an die Filmkunst auf höchstem Niveau, ein Verweis auf den Reichtum der Filmgeschichte. Eine letzte Episode: Als Oscar in der Rolle eines Vaters seine halbwüchsige Tochter von einer Party abholt, erzählt sie ihm nicht die Wahrheit; er wird sie bestrafen müssen. Und diese Strafe scheint auch das Motto des ganzen Films zu sein:
Die Strafe besteht darin, Du selbst zu sein und damit leben zu müssen. [Filmzitat]