Im Banne der Trolle und Jungfrauen im Gudbrandstal

Von Friedhelm Denkeler,

Eine legendäre Inszenierung von Peter Stein vor fünfzig Jahren – Peer Gynt in der Schaubühne am Halleschen Ufer.

Ausstelung »Ruth Walz. Theaterfotografie», 1976 bis 1990,  Museum für Fotografie, Berlin, Foto © Friedhelm Denkeler 2022
Ausstellung »Ruth Walz. Theaterfotografie», 1976 bis 1990, Museum für Fotografie, Berlin, Foto © Friedhelm Denkeler 2022

Anlässlich eines Besuchs in der Ausstellung »Ruth Walz – Theaterfotografie» im Berliner »Museum für Fotografie« im Februar 2022 ist mir klar geworden, bei welchen legendären Inszenierungen ich in meinen Anfangsjahren in West-Berlin in den 1970er-Jahren dabei war und welche ich verpasst habe. Ich erinnere mich an »Die Mutter« und »Baal« von Bertolt Brecht, anPeter Handkes »Der Ritt über den Bodensee« und an die »Sommergäste« nach Maxim Gorki, alle in der »Schaubühne am Halleschen Ufer«.

Und für mich der absolute Höhepunkt, der sicherlich für immer in meiner Erinnerung bleibt, »Peer Gynt« von Henrik Ibsen unter der Regie von Peter Stein in der »Schaubühne am Halleschen Ufer«. Theater lebt von der Erinnerung – wenn man dabei war. Darin liegen seine unwiederholbare Sinnlichkeit und die Gewissheit, dass nach bestimmten Eindrücken das Leben anders verläuft. Viele Details sind in den vergangenen fünf Jahrzehnten verschwunden. Glücklicherweise liegt mir noch das 46-seitige Programmheft »Peer Gynt« der Schaubühne mit den eingeklebten Eintrittskarten vom 5. und 6. Juni 1971 vor.

Die Aufführung glich einer Revolution in der Theaterlandschaft. Peter Stein hatte das ganze Theater, einschließlich der Zuschauersitze (sic!), leerräumen lassen, so dass der gesamte Saal als Bühne diente. Als Zuschauer wurden wir an die Längswand gedrängt und sahen hinab in die Arena auf eine Berglandschaft. Die zweistöckigen Sitzreihen erinnerten an das berühmte Londoner Shakespeare’s Globe und schufen eine große Nähe zwischen Zuschauern und Schauspielern. So war auf der Bühne viel Platz für große spektakuläre Bauten wie ein lebensgroßes Pferd und eine riesengroße Sphinx.

»Peer Gynt», Schaubühne am Halleschen Ufer, Berlin, 1971, Quelle: Internet
»Peer Gynt», Schaubühne am Halleschen Ufer, Berlin, 1971, Quelle: Internet

Die über achtstündige Aufführung fand mit ›Jugend im Gudbrandstal‹ und ›In der Fremde und Heimkehr‹ an zwei aufeinanderfolgenden Tagen statt. Die Rolle des Peer Gynt wurde auf sechs verschiedene Schauspieler verteilt: Heinrich Giskes, Michael König, Bruno Ganz, Wolf Redl, Dieter Laser und Werner Rehm. Peers Mutter wurde von Edith Clever und Solveig, Peers Liebe, von Jutta Lampe dargestellt. Zu erwähnen sind noch Angela Winkler, Jutta Lampe und Otto Sander.

Der Bauernsohn Peer Gynt versucht mit Lügengeschichten, der Realität zu entfliehen. In seiner Fantasiewelt ist die heruntergekommene Behausung ein strahlender Palast. Seine eigene Nichtsnutzigkeit verklärt er zu Heldenhaftigkeit. So schildert er seiner Mutter Aase einen halsbrecherischen Ritt auf einem ›Bock‹ über den Berg. Auf der Suche nach Liebe und Abenteuer findet er sich bald in einer Welt von Trollen und Dämonen wieder. Er verliebt sich in Solvejg, die ihn anfangs nicht erhört, aber später auf seine Rückkehr wartet.

Peer wird durch Sklavenhandel in Marokko reich, verliert alles, findet sich in der Wüste wieder, rettet sich in eine Oase. Hier leben drei Jungfrauen; die von ihm erwählte Anitra stielt ihm die letzten Habseligkeiten. Den Tiefpunkt seines Lebens erlebt Peer im Irrenhaus zu Kairo. An die berühmte Schlußszene kann ich mich noch gut erinnern. Alt und verarmt kehrt Peer Gynt (jetzt: Bruno Ganz) heim und zieht einer echten Zwiebel nach und nach die Hüllen ab und vergleicht sich mit ihr. Einen Kern kann er nicht finden, aber Solvejg beschützt ihn.

Wer die auf zwei Abende verteilte Aufführung des ›Peer Gynt‹ gesehen hat, weiß: West-Berlin hat jetzt, mit der Schaubühne am Halleschen Ufer, die zurzeit interessanteste und beste deutschsprachige Bühne. Auf die Aufführung des Peer Gynt bezogen: Mir ist aus den letzten Jahren keine Inszenierung in Erinnerung, die ähnlich reich, voll Witz, angefüllt mit schauspielerischen Spitzenleistungen das Zuschauen zu einem derartigen Vergnügen gemacht hat wie die fast acht Stunden, zu denen das Kollektiv um Peter Stein Ibsens Drama als ein ›Schauspiel aus dem neunzehnten Jahrhundert‹ ausbreitete. [Hellmuth Karasek, DIE ZEIT, Nr. 21/1971]

Ausstelung »Ruth Walz. Theaterfotografie», 1976 bis 1990,  Museum für Fotografie, Berlin, Foto © Friedhelm Denkeler 2022
Ausstellung »Ruth Walz. Theaterfotografie», 1976 bis 1990, Museum für Fotografie, Berlin, Foto © Friedhelm Denkeler 2022