Brassaï – Geheime Kunst von Paris in anonymen Graffiti

Von Friedhelm Denkeler,

Brassaïs »Auf der Straße« und Dubuffets »Les murs« in Berlin

"Selbst mit einem Graffiti-Photo von Georg Brassai 1", Foto © Friedhelm Denkeler 2011
Selbst mit einem Graffiti-Photo von Georg Brassai 1, Foto © Friedhelm Denkeler 2011

Bevor das Museum Berggruen im September 2011 für Renovierungsarbeiten seine Pforten schließt, um voraussichtlich im Juni 2012 mit dem neuen Erweiterungsbau wieder zu eröffnen, stehen sich die beiden Häuser der Dependancen der Neuen Nationalgalerie räumlich und inhaltlich nahe wie nie zuvor: Beide sind Prachtbauten von Stüler, beide beherbergen private Sammlungen der Klassischen Moderne und jetzt führt ein Photograph beide noch näher zusammen: Brassaï.

Im Gegensatz zu Im Atelier im Museum Berggruen (siehe mein letzter Post Brassaï – Der Photograph mit den vielen Masken) sehen wir im Haus gegenüber in der Sammlung Scharf-Gerstenberg Brassaïs Auf der Straße, den zweiten Werkkomplex der Doppel-Ausstellung (bis zum 28. August 2011). Hier finden sich die eingeritzten Kritzeleien an Häuserwänden, die an archaische Höhlenmalereien erinnern. Für Brassaï zeigte sich in diesen Pariser Graffiti der Geist des Surrealismus.

Drei Löcher in der Wand – Auge, Auge, Mund – mit angedeuteten Haaren, Gesichtskonturen oder nur die Silhouette eines Tieres, einer weiblichen Figur, besitzen eine geradezu archaische Kraft, der Höhlenmalerei verwandt. Der Art-brut-Maler Jean Dubuffet hatte dies erkannt. Einige seiner Bilder, die im Marstall zusammen mit der Graffiti-Serie zu sehen sind, scheinen direkt von den Aufnahmen inspiriert. Der Fotograf hatte im Stadtbild entdeckt, was sich die Surrealisten mühsam erst erarbeiten mussten. [Der Tagesspiegel]

"Selbst mit einem Graffiti-Photo von Georg Brassai 2", Foto © Friedhelm Denkeler 2011
„Selbst mit einem Graffiti-Photo von Georg Brassai 2“, Foto © Friedhelm Denkeler 2011

Im Obergeschoss ist das lithografische Werk Les murs von Jean Dubuffet aus dem Jahr 1945 zu sehen. Hier nimmt er explizit auf Brassaïs Graffiti-Photographien Bezug. Während die unbekannten Mauer-Künstler bei Brassaï ihr Bild direkt in die Mauer und den Putz ritzten, wird bei Dubuffet der Lithostein selbst zur Mauer-Oberfläche. Für Brassaï waren die Graffiti von anonymen Kreativen Spiegel unbewusster Sehnsüchte und verdrängter Obsessionen, nichts weniger als Bestandteile der Mythologie.

Der Surrealismus meiner Bilder war nichts anderes als die durch die spezielle Sichtweise ins Fantastische gewendete Realität. Es ging mir nur darum, die Realität auszudrücken, denn nichts ist surrealer. Wenn sie uns nicht mehr in Erstaunen versetzt, dann nur darum, weil die Gewohnheit sie für uns banal gemacht hat. Brassaï.

Brassaï hat die Graffiti im Stadtbild entdeckt und über Jahre fotografiert. Er hat sie nie betitelt oder datiert. Die in der Ausstellung gezeigten Graffiti stammen aus den 1930er bis 1950er Jahren und sind originale Silbergelatine-Abzüge aus seinem Pariser Nachlass. In der Ausstellung sehen wir die beiden Werkgruppen Begegnungen mit Künstlern und Graffiti. Hierzu ist auch ein Katalog für 33 € erschienen.