Carsten Höllers ›Soma‹ im Hamburger Bahnhof – Kunstwerk oder Doppelblindverfahren?

Von Friedhelm Denkeler,

Wir haben das Soma getrunken; wir sind unsterblich geworden, wir haben das Licht gesehen; wir haben die Götter gefunden.

"Rentiere mit Volieren", Foto © Friedhelm Denkeler 2010
»Rentiere mit Volieren«, Foto © Friedhelm Denkeler 2010

Udo Kittelmann, der Generaldirektor der Nationalgalerie Berlin, könnte mittlerweile in Konkurrenz zu einem Zoodirektor treten. Erst zeigte er die herrlichen, aber zutiefst irritierenden Tieraquarelle von Walton Ford im Hamburger Bahnhof, dann die Installation von Willem de Rooij mit den Vogelstilleben des Altmeisters Melchior d’Hondecoeter in der Neuen Nationalgalerie (siehe hier) und jetzt in der Historischen Halle des Hamburger Bahnhofs ein lebendes Bild von Carsten Höller. Einen überwältigenden Eindruck hatte ich bereits bei meinem ersten Besuch in der Ausstellung erhalten (siehe hier).

Da in Höllers Installation alles zweifach vorhanden ist, sollte ein zweiter Besuch den Eindruck des ersten, sozusagen in einem Doppelblindversuch, verifizieren. Das Zitat »Wir haben das Soma getrunken …« stammt aus der ältesten der vier hinduistischen Gründungsschriften. Das Rezept für den Götterdrink ging allerdings verloren. Sprachwissenschaftler, Botaniker, Ethnologen und jetzt auch ein Künstler versuchen, es wiederzufinden.

Auf der Suche nach einer anderen Welt geht Höller mit seiner Installation dem Ursprung von Soma nach, einem mythischen Rauschtrank der indogermanischen Veden im 2. Jahrtausend vor Christus. Soma verhalf zu Erkenntnis und Zugang zur göttlichen Sphäre, zu Glück und Siegeskraft. Die überlieferten Schilderungen lassen darauf schließen, dass ein Gewächs den zentralen Inhaltsstoff lieferte; dessen Identität ist jedoch bis heute unklar. Aus botanischer, ethnologischer und etymologischer Sicht könnte es sich um den Fliegenpilz gehandelt haben. [die Ausstellungsmacher].

"Soma-Rohstoff", Foto © Friedhelm Denkeler 2010
»Soma-Rohstoff«, Foto © Friedhelm Denkeler 2010

»Carsten Höller studierte zunächst in Kiel Agrarwissenschaften und habilitierte sich 1993. Parallel zu seiner Arbeit als Naturwissenschaftler begann er seine künstlerische Laufbahn und integrierte das Experiment als Verfahrensweise in seine künstlerische Arbeit. Den Aufbau einer Versuchsanordnung zitierend, schafft er ein dreidimensionales, lebendes Bild, das sich entlang der Mittelachse in zwei gleiche Hälften teilt.

Tiere wurden ausgesucht, um eine vergleichende Studie (im Doppelblindversuch) anzutreten, deren Startpunkt der Fliegenpilz ist und an deren Ende die Wiedergewinnung und Nutzbarmachung des Tranks für den Menschen stehen könnte. In dem von Höller imaginierten Experiment würde den Kanarienvöglen, Mäusen und Fliegen der psychoaktive Urin von Rentieren verabreicht, die zuvor Fliegenpilze verzehrt haben.» Soweit die Ausstellungs-beschreibung, die Höller in einem Video noch weiter präzisiert.

Beim zweiten Besuch tritt trotz aller Magie der Versuchsanordnung ein wenig Ernüchterung ein. Carstens Höllers Werk ist an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft angesiedelt. Meinetwegen soll es ruhig Kunst sein und obwohl der Doppelblindversuch noch nicht abgeschlossen ist, werden viele Fragen zum Ende der Ausstellung am 6. Februar 2011 unbeantwortet bleiben.

Wer hat die Fliegenpilze gegessen? Wer hat das Soma getrunken? Die sanft kämpfenden Rentiere auf der linken Seite oder die wiederkäuenden auf der rechten, die inaktive Stubenfliege oder ist sie bereits tot, die tanzenden Mäuse oder sind sie nur wild auf das Futter, die trillernden Harzer Roller in den Vogelvolieren oder spüren sie schon den Frühling? Plötzlich leuchtet ein helles Licht durch die Halle oder war es der Blitz meiner Kamera? Der Aufseher scheint nichts bemerkt zu haben. Hat das Soma schon gewirkt und habe ich ›das Licht‹ gesehen?