Hildegard Ochse (1935 – 1997) im Haus am Kleistpark in Berlin
Die in Westfalen geborene Hildegard Ochse beginnt um 1975 in Berlin zu fotografieren. Parallel erwachte zu dieser Zeit das öffentliche Interesse an der Fotografie: Im damaligen Berlin (West) entstand mit der Galerie Nagel die erste kommerzielle Fotogalerie, das fotografische Werk von Heinrich Zille wurde als solches wahrgenommen und in Kreuzberg entstand die von Michael Schmidt geleitete Werkstatt für Photographie. Hildegard Ochse nahm dort am Unterricht von Ulrich Görlich teil und besuchte die Workshops US-amerikanischer Fotografen wie Lewis Baltz, John Gossage und Larry Fink.
Der Begriff Autorenfotografie wurde von Klaus Honnef 1979, damals Kurator am Rheinischen Landesmuseum in Bonn, in die Debatte eingeführt. Ein Autorenfotograf verfolgt zeitlebens ein einziges Thema, betrachtet die Wirklichkeit aus einem bestimmten Blickwinkel heraus oder entwickelt eine Bildsprache, die man sofort wiedererkennt. Er realisiert nur seine eigenen künstlerischen Vorstellungen als freier Fotograf, das heißt in der Regel ohne explizierten Auftrag von außen.
Aber: Der Autorenfotograf ist weder Amateur noch Hobbyfotograf, auch kein unbewusst arbeitender Berufsfotograf. So gesehen sind die Arbeiten von Atget und Zille auch als Werke von Autorenfotografen anzusehen. Sie schaffen mit ihrem Werk eine authentische Realität, da sie dokumentarisch vorgehen; gehen aber gleichzeitig von ihrem persönlichen Bewusstsein aus, indem sie auswählen, wiederholen und verdichten.
Hildegard Ochse hat sowohl in Berlin als auch auf zahlreichen Reisen fotografiert. Im Haus am Kleistpark werden insbesondere ihre Berlin bezogenen Arbeiten anhand von sieben, thematisch zusammengefassten Bildserien vorgestellt:
Stadtvegetation (1979/80): Wilde Natur in der Stadt: Kräuter, Sträucher und Bäume wachsen auf Parkplätzen, an Rändern der Häuser und auf den noch zahlreichen Ruinengrundstücken. Die Stadtvegetation folgt keinen gesellschaftlichen Regeln und wächst, wie es ihr beliebt. Der Kurator Enno Kaufhold zieht Vergleiche mit der damaligen jungen Generation, die sich aus dem sozialen Reglementieren befreien wollte und das letztendlich gleich der Natur auch umsetzte.
Ganz so politisch sehe ich die Bilder dieser Serie nicht: Sie haben auch etwas Melancholisches, aber eigentlich ist der Inhalt auch unnennbar; etwas von dem Susan Sontag gesagt hätte: Es ist ein Versuch, das Unsagbare auszudrücken. Ähnlich sehe ich die abstrahierenden Bilder der Berliner Mauer, die unmittelbar nach deren Fall entstanden sind: Die Mauer – Metamorphosen (1990). »Gras wird wachsen über den sichtbaren Wunden von Krieg und Vernichtung« sagte Hildegard Ochse dazu. Nur die später einsetzenden Baumaßnahmen boten der Natur Einhalt.
Die Aufnahmen aus der Berliner S-Bahn heraus, die vom Spiel mit Schärfe und Unschärfe leben, hat Ochse hingegen noch zu Mauerzeiten fotografiert: S-Bahn – Stadtlandschaften (1983). Beim Blick aus den Fenstern könnte man denken, die Bahn fährt durch unkultivierte Landschaften und fern der Zivilisation. Und irgendwie war es so auch: wilde Natur neben und auf den Gleisen, marode und verlassene Industrieanlagen. Diese drei Serien gehören für mich zu den besten dieser Ausstellung.
Ein Zeitdokument schafft Hildegard Ochse mit dem Café Mitropa (1980), einem angesagten Neon-Cafe in der Schöneberger Goltzstraße (heute Café „M“). Es war das Stammlokal der damaligen Künstleravantgarde, Blixa Bargeld von den „Einstürzenden Neubauten“ ist nur ein Name unter vielen. Auf einem der Fotos liegt die Musikzeitschrift „Spex“ auf dem Tisch unter den Neonröhren in dem spartanisch eingerichteten Café Mitropa. Mit den im selben Ausstellungsraum hängenden Fotos aus Zoologischen Gärten (1983/84) thematisiert Ochse das Eingesperrtsein eigentlich wild lebender Tiere, die entgegen ihrer Natur nun in betongleichen Käfigen gehalten werden.
Die Serien Königliche Porzellan-Manufaktur KPM (1987), in der Ochse die Mitarbeiter der KPM mit ihren manuellen Kunstfertigkeiten in den Vordergrund rückt und auch Der Eid auf die Verfassung – Beamte (1987), eine Porträtserie von Berliner Verwaltungsbeamten, sind besondere Zeitdokumente und weniger künstlerische Arbeiten. Ich gehe davon aus, dass im Werk von Hildegard Ochse, die ich aus der gemeinsamen „Werkstatt“-Zeit kenne, noch weitere „Schätze“ lagern, die entdeckt werden müssen.
Mehr als 5 000 Schwarz-Weiß-Fotografien umfasst das Werk von Hildegard Ochse. Die Ausstellung zeigt hiervon 190 Originalabzüge aus ihrem Nachlass. Diese erste Retrospektive der Autorenfotografin erlaubt, das Werk neu zu entdecken. Die Ausstellung wurde von Dr. Enno Kaufhold kuratiert. Begleitend zur Ausstellung zeigt Benjamin Ochse, der Sohn von Hildegard Ochse, zwei Videos zu den fotografischen Arbeiten seiner Mutter. Ort: Haus am Kleistpark, Grunewaldstraße 6 – 7, 10823 Berlin, Di bis So 10 – 19 Uhr, bis 29. Juli 2012. www.hausamkleistpark.de, www.hildegard-ochse.de, Video zur Ausstellung mit Enno Kaufhold