Muss die Geschichte der Fotografie umgeschrieben werden?

Von Friedhelm Denkeler,

Pressestimmen zu den drei Ausstellungen zur Geschichte der »Werkstatt für Photographie« (1976-1986) in Berlin, Essen und Hannover

Weser Kurier: Fotografie als Kunstform – wer heute große Ausstellungen von Cindy Sherman, Candida Höfer, Andreas Gursky, Thomas Struth oder Helmut Newton besucht, mag kaum glauben, dass es vor 40 Jahren für solche Arbeiten kein museales Forum gab. Selbst die heute als Klassiker der Fotokunst empfundenen Persönlichkeiten wie Man Ray, August Sander, Karl Blossfeldt oder Walker Evans fristeten ein Schattendasein. Eine Institution, die ab 1976 eine Neubewertung des Mediums Fotografie maßgeblich vorantrieb, steht jetzt im Zentrum einer gemeinsamen Ausstellung des Sprengel-Museums Hannover, des Museums Folkwang Essen und des C/O Berlin im dortigen Amerika-Haus: die Werkstatt für Photographie in Berlin.

Märkische Oderzeitung: Mitten im Kalten Krieg schafften es die Kreuzberger außerdem, Fotos aus den USA in die West-Berliner Enklave zu holen. Amerikanische Fotografen stellten in der Werkstatt am Checkpoint Charlie nicht nur ihre Bilder aus, sondern gaben auch Workshops. Gefördert wurden die künstlerischen Kontakte durch das amerikanische Kulturzentrum im Amerika-Haus am Zoo, heute Sitz des C/O Berlin. Die Ausstellung „Kreuzberg – Amerika“ zeigt einerseits Serien bekannter amerikanischer Fotografen, die damals in Kreuzberg ausgestellt wurden, und andererseits Werke von Angehörigen der Werkstatt – Fotografen, Dozenten und Gäste.

Plakat der Werkstatt für Photographie: "Paul Caponigro", 1980, Foto © Friedhelm Denkeler 2016
Plakat der Werkstatt für Photographie: »Paul Caponigro«, 1980, Foto © Friedhelm Denkeler 2016

Zitty: Als Volkshochschule Bild-Avantgarde war: Das C/O Berlin erinnert an die Werkstatt für Photographie – zusammen mit Sprengel Museum Hannover und Folkwang Museum Essen, die das Aufkommen regionaler Autorenfotografie beleuchten. … Die Zeit war reif. In den zehn Jahren ihres Bestehens sollte sich die Anerkennung der Fotografie als künstlerisches Ausdrucks-medium in Deutschland vollziehen. Die Werkstatt ist maßgeblich daran beteiligt. …

Die Tatsache, dass die seriöse Fotografie an einer Volkshochschule (VHS) begann, sagt einiges. Noch bis in die 70er-Jahre existiert so gut wie keine Institution, die sich mit der Fotografie als künstlerischem Medium befasst. Bis 1979, als Janos Frecot an der Berlinischen Galerie eine Fotografische Sammlung aufzubauen beginnt, gibt es in Berlin keinen Anlaufpunkt für die Fotoszene – bis auf die VHS in Kreuzberg

RuhrNachrichten: Mit Geschichte und Wirkung der einflussreichen Berliner “Werkstatt für Photographie” befassen sich von diesem Wochenende an drei Foto-Ausstellungen in Essen, Hannover und Berlin. Anlass ist die Gründung dieser Institution der Volkshochschule Berlin-Kreuzberg vor 40 Jahren. Sie bestand zehn Jahre lang. Laut Sprengel Museum wurde sie zu einer der folgenreichsten Schaltstellen des Austausches zwischen deutscher und US-amerikanischer Fotografie. Das Museum Folkwang nennt die Werkstatt »eine künstlerische ‘Luftbrücke’ in Richtung USA, ein demokratisches Experimentierfeld jenseits traditioneller Ausbildung und politisch-institutioneller Vorgaben«.

Art Kunstmagazin: Ein vergessenes Kapitel der deutschen Fotografie-Geschichte kommt ans Licht: In der Werkstatt für Photographie an der VHS Kreuzberg wurde ab 1976 eine direkte, subjektive und schonungslose Bildsprache entwickelt. … Es ging um die Haltung des Fotografen, nicht um perfekte Technik. … Die Akteure der Werkstatt waren keine Lehrer, aber sie unterrichteten. … Man spürt, dass hier junge Fotografen mutig genug waren, ihren Weltausschnitt selbst zu wählen. Es war eine Rebellion der Subjektivität, gegen die Idee der objektiven Darstellung von Wirklichkeit. Diese Selbstermächtigung der Fotografie fand an einem denkbar unscheinbaren Ort statt: An der Volkshochschule in Berlin-Kreuzberg.

Frankfurter Allgemeine Zeitung: Vor dreißig Jahren aber, als die Fotokunst gerade erst dabei war, sich in Museen und auf dem Kunstmarkt zu etablieren, war die Vormachtstellung der Düsseldorfer Schule alles andere als ausgemacht. Deutsche Fotografie trat mit rebellischer Härte auf, betonte den subjektiven Blick, warf sich hitzig ins Geschehen, wählte den Ausschnitt statt des Überblicks und provozierte mit exzentrischer Körperlichkeit. Drastisch gesagt: Sie hatte “etwas von der fiebrigen, halluzinatorischen Vehemenz eines Schwerkranken”, wie die Washington Times 1984 anlässlich der Ausstellung Fotografie aus Berlin bei Castelli Graphics in New York befand.

Der Tagesspiegel: Die »Subjektive Fotografie« der Nachkriegszeit, bei der die Form stets wichtiger gewesen war als der Inhalt, ließen Schmidt und seine Schüler hinter sich, auch mit dem stärker akademischen Ansatz der Düsseldorfer Fotoschule wussten sie nur wenig anzufangen. Sie wollten das echte Leben in all seiner Pracht und Hässlichkeit zeigen. Vorbilder waren die radikal subjektiven Meister der amerikanischen Straßen- und Porträtfotografie. Einige Idole wie William Egglestone, Stephen Shore und Robert Frank kamen für Ausstellungen und Seminare nach Berlin.

Berliner Morgenpost: Die Fotografen der Werkstatt standen in engem Austausch mit amerikanischen Kollegen. Beide Seiten inspirierten sich gegenseitig und beeinflussten mit ihrem dokumentarischen Ansatz die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen. … Später experimentieren Schmidt und die junge Fotografenszene mit neuen Formen des Dokumentarischen, die die subjektive Sicht des Autors betonen. “Das ist eines der Paradoxe der Werkstatt für Photographie. Beim dokumentarischen Ansatz nimmt sich der Fotograf zurück und bildet die Realität ab. Wenn man die Fotos in Serie betrachtet, wird jedoch eine künstlerische Handschrift sichtbar”, sagt Weski. »Der Begriff des Autorenfotografen entstand im Umfeld der Werkstatt und beschreibt die Herangehensweise der Beteiligten gut.«

Perlentaucher.de: Das hier ist ›arme Kunst‹. Und viele dieser Künstler sind wahrscheinlich bis heute arm. Nichts würde hier deplatzierter wirken als die überwältigenden Großformate der Becher-Schüler, die neben Nauman und Richter und in den Foyers der UBS hängen wollen, nicht in Fotoausstellungen. Dass es diese Spannung bis heute gibt, zeigt, dass Fotografie nach wie vor keine reine Kunst ist. Ich frage mich, ob nicht zumindest für Schmidt, aber vielleicht auch für einige der anderen Fotografen, das Buch die eigentliche Form ist, seine Fotografie zu denken. Was mir an dem grandiosen Katalog – der eine ganze Periode der deutschen Fotogeschichte revidiert und eine ganze Generation endlich ins Licht stellt – darum fehlt, ist eine Bibliografie ihrer Bücher.

tip Berlin: Dieses Stück Fotografie-Geschichte konnte sich so nur im West-Berlin des kalten Krieges zutragen. Nur im Schatten des historischen Meteoriteneinschlags Mauerfall in Vergessenheit geraten. Um nun, 30 Jahre nach dem Ende, mit gleich drei zusammenhängenden Ausstellungen wiederentdeckt zu werden. Und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die deutsche Fotografie-Geschichte jetzt nicht nur ergänzt, sondern eigentlich umgeschrieben werden muss. … Michael Schmidt, 2014 verstorben, gehört zu den ganz großen unter den deutschen Fotografen. Doch Leute wie Gosbert Adler, Ulrich Görlich, Uschi Blume, Hildegard Ochse, Friedhelm Denkeler und Ursula Kelm sind zu entdecken.

PHOTONEWS: Aber worin besteht die besondere Leistung der Werkstatt? Thomas Weski unterstreicht, dass sie ein Ort der Selbstermächtigung gewesen sei, Inka Schube spricht vom vorbildhaften Emanzipationsprozess. Hier fotografierte man, analysierte seine Arbeit in der Gruppe, setzte sich mit anderen Positionen auseinander, kuratierte Ausstellungen mit den Bildern von Schülern, Dozenten und amerikanischen Gästen, veröffentlichte Kataloge und knüpfte gemeinsam neue Kontakte, so auch zu Fotoszenen in Ost-Berlin.

TAZ: Mit ihrer Mischung aus hochkarätigen Ausstellungen und Workshops, Vorträgen und der künstlerisch orientierten Ausbildung gelang es, Volksbildung auf höchstem Niveau zu betreiben. … Die Liste der Ausstellungen liest sich heute wie ein Who’s who der Fotografie-Geschichte. Selbst so berühmte Fotografen wie Robert Frank, Diane Arbus, Stephen Shore oder Ralph Gibson fanden den Weg in die Kreuzberger Schule, bzw. wurden dort erstmals gezeigt.

DIE ZEIT: Auch William Eggleston, Larry Fink, Lee Friedlander und Robert Frank, all die angesagten Vertreter der Autorenfotografie, kamen in den Jahren bis zum Ende der Werkstatt 1986 nach Kreuzberg, um Vorträge zu halten und zu lehren. Die Fotos dieser Vorbilder aus den USA sind jetzt wieder in Berlin zu sehen, die Entdeckung der drei parallelen Museumsausstellungen in Hannover, Berlin und Essen sind allerdings die Mitstreiter Michael Schmidts, die heute weitaus weniger bekannt sind. … Diese künstlerisch-dokumentarische Fotografie ist es, die heutige Kollegen neu fasziniert.

Plakat der Werkstatt für Photographie: "Larry Clark", 1981, Foto © Friedhelm Denkeler 2016
Plakat der Werkstatt für Photographie: „Larry Clark“, 1981, Foto © Friedhelm Denkeler 2016

Hannoversche Allgemeine (Interview mit Thomas Weski): Damals wurden die großen Traditionslinien der Avantgarde wieder freigelegt, die es vor der Nazizeit gab, und die Wahrnehmung von Fotografie als Kunstform wurde durch weitere Faktoren begünstigt – die ersten Fotogalerien eröffneten, es gab internationale Zeitschriften wie Aperture, Creative Camera oder Camera, die freies, ungebundenes Fotografieren thematisierten. Und damals begannen auch bildende Künstler, sich für Fotografie als Ausdrucksform zu interessieren, wie 1977 die Documenta 6 in Kassel zeigte. …

Und durchweg ging es außer um Rückbesinnung auch um Selbstvergewisserung der Fotografie als Kunstform, um eine Selbstermächtigung ihrer Akteure. Die haben dabei überdies vom Beispiel von US-Fotografen profitiert. Denn deren Alltag war damals viel selbstbestimmter und souveräner als etwa der deutscher Fotografen, die in der Regel im Auftrag arbeiteten. Autorschaft wurde, in Anlehnung an den Autorenfilm, für diese Fotografen zum zentralen Begriff.

Berliner Zeitung: Auch war die Fotografie als eigene Kunstform noch nicht vollständig etabliert. Das brachte Freiheit. »Der Mensch als Persönlichkeit ist für mich das Wesentliche, durch ihn erst kann Fotografie entstehen und niemals umgekehrt«, ist in einem Schreibmaschinenmanuskript zu lesen, einem Text, den Schmidt über die Werkstatt geschrieben hat. »Deshalb ist Selbsterkenntnis ein Schwerpunkt unserer Arbeit, ohne dabei in gruppentherapeutisches ‚Psychologisieren‘ abzugleiten.«

Ruhr.speak – Blog für Fotografie:  Da lebt man im Ruhrgebiet und beschäftigt sich mit Fotografie, erntet Missachtung von denen, die mit anderer Kunst (und vor allem ohne Kunst) unterwegs sind, freut sich über kleine Erfolge und plötzlich fühlt man sich im Mittelpunkt einer Bewegung, die weit über die Region, über Deutschland und Europa hinausgeht. Gut, in einem Elfenbeinturm, aber an der Spitze einer Bewegung (heute würde man wohl eher Netzwerk sagen) in der es um nichts anderes ging, als um die Wahrnehmung der Welt, mit eigenen Augen und eigenem Verstand sowie um deren eigenständige Darstellung. So mein Gefühl zur aktuellen Ausstellung im Folkwang – einem Muss für jeden Fotografie-Interessierten im Ruhrgebiet und anderswo.

Radioeins: Die Werkstatt für Photographie erlangt mit engagierter Vermittlungsarbeit durch Ausstellungen, Workshops und Kurse internationales Niveau und etabliert sich zu einem wichtigen Ort des transatlantischen fotografischen Dialogs zwischen Kreuzberg, Deutschland und Amerika. Eine einzigartige Pionierleistung!