Über das Wahre Unsichtbare in der Kunst

Von Friedhelm Denkeler,

Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart in der Ausstellung »3 × Berlin – Fotografische Arbeiten« im Bayer-Haus

Gestern Abend wurde die Ausstellung 3 × Berlin – Fotografische Arbeiten mit den Werken von Horst Hinder, Ralf Hasford und Friedhelm Denkeler im Bayer-Haus am Kurfürstendamm eröffnet. Nach einer Einleitung von Horst Hinder machte der Philosoph und Schriftsteller Reinhard Knodt vor über 80 Gästen einige Anmerkungen zu den einzelnen Arbeiten. Knodt bezog sich nicht auf das Vordergründige, das man in den Bildern auf einen ersten Blick hin sieht, sondern versuchte das »Wahre Unsichtbare in der Kunst« [Kant], das sich erst nach und nach zeigt, darzustellen. Im Folgenden stelle ich seine Betrachtungen in Auszügen vor.

Zu Horst Hinder: »Berlin – zerlegt und collagiert«

"5x5 Nr. 2", Foto © Horst Hinder 2009
»5×5 Nr. 2«, Foto © Horst Hinder 2009

Das Unsichtbare, aber grundlegend Wichtige in der Malerei, wie auch in der Fotografie, ist bekanntlich das Licht. Dass der Gesamteindruck eines Bildes sich aus kleinen Flächen oder sogar Punkten zusammensetzt, haben bereits die Impressionisten thematisiert (Monet, Renoir). Die mathematische Spitze dieser Auffassung stellt der Pointilismus dar (etwa Seurat) …

Nehmen wir die Fotografie, bzw. gehen jetzt einmal zu Horst Hinder über, dann fällt auf, dass er Hunderte von Einzelbildern zu größeren Einheiten zusammen-setzt, bzw. große Bildeinheiten und kleine, lichtpunktartige Fraktale ins Verhältnis bringt. Dieses Verfahren, könnte man strukturell mit einem Prinzip beschreiben, das René Descartes berühmt gemacht hat und das auch das leitende Prinzip der Moderne ist.

Descartes sagte: Wenn man ein komplexes Problem darstellen will (sagen wir Berlin), müsse man es in möglichst viele Teilprobleme zerlegen, diese Teilprobleme einzeln lösen und aus diesen Lösungen das Ganze wieder zusammensetzen. Die letzten dreihundert Jahre Europäische Geschichte leben von diesem Prinzip. Wir nennen es ‚Fortschritt‘ und wir hoffen, dass das Prinzip der Zerlegung und Zusammensetzung in Politik, Technik und auf anderen Ebenen eine Verbesserung der Verhältnisse ermöglicht.

Wir sind also bei aufkommenden Problemen sofort bereit, zu unterscheiden, zu zergliedern, Speziallösungen zu suchen aus denen unsere Welt dann, so hoffen wir, durch Vertrauen in die Zukunft sich verbessert. Jeder weiß, dass diese neuzeitliche Fortschrittshoffnung bzw. Zukunftssehnsucht uns heute gelegentlich fragwürdig vorkommt – man nennt dieses Phänomen Postmoderne. Horst Hinders Arbeitsweise spiegelt das … Daher würde ich Horst Hinder nach einem Schema, das ich jetzt vorschlage, als einen Künstler bezeichnen, der die Zukunftssehnsucht der Moderne ins Bild bringt – nicht symbolisch aber doch methodisch.

Zu Friedhelm Denkeler: »Im Wedding«, 1978

"Kristallpalast", Foto © Friedhelm Denkeler 1977
»Kristallpalast«, Foto © Friedhelm Denkeler 1977

Bleiben wir beim Begriff der Sehnsucht und gehen zu Friedhelm Denkeler. Zwar möchte ich auch ihn als Sehnsüchtigen bezeichnen, seine Sehnsucht sollte man aber eher mit Nostalgie umschreiben, … also Heimweh, natürlich auch nach früheren Zeiten. Die Nostalgie wird in der fortschrittlichen Moderne etwas abfällig als Schwäche beurteilt. Gleichwohl ist sie eine starke Form der Sehnsucht, ja sogar eine wichtige Atmosphäre, ohne die es kaum Kunst oder Feste gäbe …

Das klingt banal, aber das sollte man nicht außer Acht lassen, wenn man sich mit nostalgischen Szenerien beschäftigt, selbst, wenn wir ahnen, dass wir manchen Dingen der Vergangenheit vielleicht zum Glück entkommen sind – was besonders für Berlin zutrifft. Auch die Technik der Schwarzweißaufnahme führt uns in die Vergangenheit … Die 35 Jahre alten Fotos Denkelers machen einen Aspekt deutlich, den man mit dem Anthropologen Roland Barthes als das »Palimpsest der Stadt« bezeichnen könnte.

Ein Palimpsest war im Mittelalter ein altes Pergament, das abgeschabt und neu beschrieben wurde. Die alten Buchstaben leuchteten manchmal noch durch die neuen, die Vergangenheit war gewissermaßen präsent, so wie das auf Berliner Häuserfronten, die noch nicht übertüncht und frisch renoviert waren. Denkelers Arbeiten spielen mit der Stadt als Palimpsest, auf dem sich Altes und Neues zugleich zeigt, wo der Kohlenhändler, der vor zwanzig Jahren seinen Laden dichtmachte und die alte Brot- und Feinbäckerei eben noch spürbar sind, obwohl wir heute dort längst gestrichene Fassaden … sehen. Nostalgie – die Sehnsucht nach der Vergangenheit im Reich der Zeichen.

Vielleicht sollte man noch anfügen, dass Denkeler natürlich kein naiver Nostalgiker ist. Einer, sagen wir mal Laura Ashley-Nostalgie, würde er sogar kräftig entgegenarbeiten. Seine Bilder haben nichts Bergendes oder Idyllisches, eher schon zeigen sie das oft Hilflose, das Ungeborgene, Dürftige oder Bedürftige der Vergangenheit. Seine Sache ist also nicht die Sehnsucht nach der Vergangenheit allein, sondern auch das Wissen darüber, dass man sich in Nostalgie nicht einrichten kann.

Zu Ralf Hasford »Sitzenlassen in Berlin«

"Lustwandeln erschöpft", © Ralf Hasford 2008
»Lustwandeln erschöpft«, © Ralf Hasford 2008

Ich komme zum dritten Künstler und damit auch zu einer dritten Art der Sehnsucht: Eine Bank, ist ein Gegenstand, der zum Sitzen einlädt. Sie winkt sozusagen von Ferne, sie lädt ein. Die Einladung hat gelegentlich sogar eine gewisse Dringlichkeit, je nach Bank und je nachdem ob sie dürftig ist oder prächtig, bequem oder hart. Parkbänke sprechen uns stark an, wahrscheinlich, weil wir als stets müde Stadtwanderer immer wieder auf sie zurückkommen müssen.

Die Bank lädt nun aber nicht nur zum Ausruhen ein, sondern eben auch zur Kontemplation. Wir kontemplieren nicht nur auf der Bank, sondern gewissermaßen schon angesichts der Bank. Sie ist nicht nur das Mittel, sondern auch das Bild der Ruhe und Kontemplation. Kontemplation ist das Verharren im Jetzt und wenn ich mein zugegeben einfaches Schema der Sehnsucht anwenden darf, würde ich jetzt also sagen, nachdem wir uns mit der Sehnsucht nach Zukunft und nach Vergangenheit beschäftigt haben, stehen wir bei der Bank gewissermaßen vor der Sehnsucht nach dem ‚Jetzt‘, nach Zeitlosigkeit, eine Sehnsucht, die übrigens der Berliner Philosoph Schopenhauer als die Sehnsucht ’nach dem Nichts‘ in die Diskussion brachte …

Der Meditations- und Liebesort des 19. Jh., der in dieser Ausstellung nun selbst zum meditativen Gegenstand geworden ist, nachdem ihn Ralf Hasford entdeckt hat, verkörpert also die Sehnsucht nach dem Jetzt, nach der Zeitlosigkeit. Und faktisch steht ja auch die Parkbank, die Gartenbank, oder die Friedhofsbank zwischen Vergangenheit und Zukunft im Jetzt.

Zusammenfassung

Damit bin ich am Ende. Ich behaupte, bei genauerem Nachdenken bemerkt man, die drei hier ausstellenden Künstler haben sich offenbar instinktiv zu einem gemeinsamen Thema zusammengefunden, welches oberflächlich »Berlin«, tatsächlich aber »Sehnsucht« lautet, wobei sich jeder auffällig deutlich mit einem der drei Zeitaspekte der Sehnsucht beschäftigt hat: Horst Hinder mit der modernen Sehnsucht nach Zukunft, bzw. Fortschritt im Puls von Zerstückelung und Zusammensetzung, Friedhelm Denkeler mit der Nostalgie, also der Sehnsucht nach der Vergangenheit, und Ralf Hasford schließlich mit der Sehnsucht nach dem Jetzt, dem Stehenbleiben der Zeit …

Inwieweit das alles zutrifft, müssen Sie entscheiden. Es könnte sein, dass die Formen der Sehnsucht nicht ganz so sauber nach Zukunft, Vergangenheit und jetzt getrennt sind, wie ich das behauptet habe. Zum Beispiel betont bildende Kunst überhaupt eher das ›Jetzt‹ als andere zeitliche Orientierungen. Andererseits würden wir dann aber von Bildern als Gegenständen sprechen und nicht mehr von dem was sie als Gegenstände ausdrücken … Möge sich erfüllen, wonach immer Sie sich sehnen.

Die Ausstellung ist noch bis zum 21. März 2013, Mo-Fr 8-19 Uhr, im Bayer-Haus am Olivaer Platz, Kurfürstendamm 179, 10707 Berlin, zu sehen. www.reinhard-knodt.de