Die erotisch aufgeladenen Werke von Hans Bellmer und Louise Bourgeois in der Sammlung Scharf-Gerstenberg, Staatliche Museen zu Berlin (Charlottenburg).
Körper verformen sich, lösen sich auf; Gliedmaßen fehlen, andere verdoppeln sich; männliche und weibliche Geschlechtsformen verschmelzen zu androgynen Wesen – ich musste manchmal zweimal hinschauen, ob es das Werk von Hans Bellmer oder Louise Bourgeois war – in der kleinen, aber feinen Kabinett-Ausstellung im Marstall des östlichen Stülerbaus gegenüber dem Schloß Charlottenburg. Aufgrund der großen Werbeaktionen für die Ausstellung hatte ich allerdings mehr Werke – insbesondere weitere Photographien von Bellmer mit seinen anarchistisch-erotischen Inszenierungen – erwartet.
Hans Bellmer (1902 Kattowitz – 1975 Paris) interessierte sich weniger für sein Studium an der Technischen Hochschule Berlin, sondern eher für Karl Marx und die Künstler der Dada-Bewegung und die Surrealisten, die er in Paris kennenlernte. Ab den 1930er-Jahren beschäftigte er sich bis zum Lebensende mit erotischen Darstellungen der weiblichen Anatomie. 1934 entstand Bellmers erste Puppe. Auslöser war die mechanische Puppe, die Bellmer in einer Aufführung von Jacques Offenbachs Hoffmanns Erzählungen gesehen hatte und wohl auch der Besuch seiner jungen Cousine Ursula, die ihn faszinierte.
Bellmer konstruierte aus Teilen von Schaufensterpuppen und verschiedenen Materialien fetischartige Puppen, die er immer wieder fotografierte und zeichnete. Die Bilder/ die Puppen sind künstlich und zugleich real. Sie rufen die Höhen und Tiefen der – männlichen? – Phantasie hervor. Die Fotografien schickte er an Paul Éluard und André Breton nach Paris, die ihn darauf hin als Surrealisten ansahen. 1934 hatte Bellmers erste Fotoserie La poupée große Erfolge, die anschließend auch im Museum of Modern Art in New York in der Surrealismus-Ausstellung zu sehen waren.
»1953 begegnete Bellmer der an Schizophrenie und Depression leidenden Schriftstellerin Unica Zürn, mit der er bis zu ihrem Lebensende zusammen arbeitete. Sie zogen in das Pariser Hotel L’Espérance, wo sie kaum Freunde und wenig Kontakte hatten, kaum ausgingen, und sich immer mehr von der Außenwelt abschotteten. 1954 erschien in Frankreich die “Geschichte der O” mit einer Lithografie Bellmers auf der Titelseite. 1959 und 1964 wurde Bellmer zur documenta II und documenta III in Kassel eingeladen. 1970 stürzte sich Zürn aus der gemeinsamen Wohnung in Paris in den Tod. Bellmer starb 1975 vereinsamt in Paris« (Quelle: Wikipedia).
Louise Bourgeois Familie hatte in Paris eine Galerie für historische Textilien. »Mein Vater redete pausenlos. Ich hatte nie Gelegenheit, etwas zu sagen. Da habe ich angefangen, aus Brot kleine Sachen zu formen. Wenn jemand immer redet und es sehr weh tut, was die Person sagt, dann kann man sich so ablenken. Man konzentriert sich darauf, etwas mit seinen Fingern zu machen. Diese Figuren waren meine ersten Skulpturen, und sie repräsentieren eine Flucht vor etwas, was ich nicht hören wollte. […] Es war eine Flucht vor meinem Vater. Ich habe zahlreiche Arbeiten zu dem Thema The Destruction of the Father gemacht. Ich vergebe nicht und ich vergesse nicht. Das ist das Motto, das meine Arbeit nährt« (Bourgeois).
»Louise Bourgeois hat sich im Laufe ihres künstlerischen Schaffens mit den unterschiedlichsten Materialien und Techniken auseinandergesetzt. Dabei nimmt sie in einigen Bereichen eine Pionierrolle ein: So ist sie eine der ersten Künstlerinnen, die installativ arbeitete, indem sie ihre Skulpturen als zusammenhängende Teile in einem räumlichen Kontext arrangierte. Ihre Experimentierfreudigkeit führt sie immer wieder zu neuen Verarbeitungsmöglichkeiten und Materialkombinationen. Beispielsweise dienen bei einigen der seit Mitte der neunziger Jahre entstandenen Stofffiguren die verarbeiteten Kleidungsstücke aus Kindheit und Jugend als Fülle sowie als Umhüllung – sie sind Material und Thema, Inhalt und Form« (Quelle: Wikipedia).
1982 fand im Museum of Modern Art Bourgeois erste Retrospektive statt. Für den Katalog fotografierte Robert Mapplethorpe sie mit einem – scheinbar – riesigen Phallus, unter dem Arm. Es handelt sich um ihr Werk La fillette (das Mädchen), das zugleich ein weibliches Wesen mit Vulva ist, die ich erst auf dem zweiten Blick gesehen habe. Mit diesem Werk beginnt die Berliner Ausstellung. Die Doppelgeschlechtlichkeit zieht sich durch ihr ganzes Werk (und das von Hans Bellmer). Internationales Interesse erweckte Bourgeois mit der Teilnahme an der documenta IX in Kassel (1992) und der Biennale in Venedig (1993). Louise Bourgeois ist am 31. Mai 2010 im Alter von 98 Jahren in New York verstorben.