Horst Hinder – ein Künstler wider Willen. Ausstellung in der Wandelgalerie des „Berlin Marriott Hotel“
Das Berlin Marriott Hotel am Potsdamer Platz zeigt in seiner Wandelgalerie für die nächsten zwei Monate fotografische Arbeiten von Horst Hinder. Hinder, der seit über 25 Jahren in Berlin lebt und arbeitet, hat die Stadt fotografisch auseinander genommen und Quadrat für Quadrat wieder neu zusammengesetzt (siehe Die Quadratur der Stadt und 3 × Berlin – Fotografische Arbeiten im Bayer-Haus). Direkt neben der Wandelgalerie schließt sich die Wandelbar an; sie machte ihrem Namen bei der Vernissage alle Ehre und wandelte sich nach den Eröffnungsreden in ein kulinarisches Eldorado.
Der Philosoph und Schriftsteller Reinhard Knodt stellte vor über 70 geladenen Gästen seine Betrachtungen zu den Arbeiten von Horst Hinder vor, die ich im Folgenden wiedergeben möchte.
Philosophen und Galerieredner
Philosophen unterscheiden sich grundlegend von Kunstwissenschaftlern, die sich ansonsten gern als Galerieredner betätigen. Der Kunstwissenschaftler, sei er Kunsttheoretiker oder Historiker weist vom aktuellen Ausstellungsgegenstand weg auf andere Werke. Er könnte im vorliegenden Fall etwa darauf hinweisen, dass Gerhard Richter in den 90er Jahren auch schon Arbeiten wie die von Horst Hinder gezeigt hat. Vielleicht erläutert er dann auch Unterschiede oder stellt Beziehungen zu anderen weiteren Stationen der Fotografie- oder Malereitradition her. Er denkt also vom Kunstwerk weg hin auf eine Tradition, die das Publikum zu kennen hat und an der er sein Urteil bildet.
Der Philosoph macht einen entgegengesetzten Versuch. Er lenkt den Blick vom Alltäglichen, bzw. von traditionellen Sicht- und Urteilsweisen oder auch historischen Erfahrungen hin auf das Phänomen der vor seinen Augen stehenden Arbeiten. Er vergleicht nicht. Er wird eher zu bestimmen suchen, was diese Arbeiten „als Kunst“ sind oder sein wollen. Insofern ist er auch eher der Freund des Künstlers und weniger sein Kunstrichter. Er ist im Idealfall der kongenial agierende Begriffsfinder, der davon ausgeht, dass ein Kunstwerk unvergleichlich ist und in diesem Sinne auch eher auf ein Prinzip oder auf eine Wahrheit hinweist als etwa Anlass zu einer Platzbestimmung in der Tradition oder einer Qualitätshierarchie zu sein. In diesem Sinne nähere ich mich der Sache gewissermaßen von außen – nehmen wir zunächst die Titel.
Die Titel der Bilder
Die Arbeiten Horst Hinders haben bemerkenswerte Titel. Sie heißen „3 mal 3“, „5 mal 5“, „10 x 10“, usw. Man kann sich anhand der Titel sozusagen ausrechnen, wie viele Bildfelder eine Arbeit hat, und das sind dann manchmal auch beachtlich viele, in einem Fall immerhin über 2800. Die Bilder unterscheiden sich auch nicht durch ihre Titel. „3 x 3“ gibt es zehnmal. „4 x 4“ zweimal, usw. Daneben existieren noch drei eher spielerische Varianten. Eine heißt „Der junge Herr Bergmann“, also Bilder der Bergmannstrasse, die tatsächlich zusammen schemenhaft den Eindruck eines jungen Mannes erkennen lassen, die aber auch „7 mal 7“ heißen könnten.
Diese abstrakten Bezeichnungen stellen eine Art semantische Verweigerung dar. Sagen wir, es ist die Verweigerung des Themas. „Ich habe keine Botschaft“ sagte mir Horst Hinder auch, als ich vor einigen Tagen versuchsweise in diese Richtung fragte. Es ist klar, ein Titel wie „3 mal 3“ leitet nicht gerade zu einer vorschnell befriedigenden Interpretation.
Korrespondenz – Zwischen Willkür und Notwendigkeit
Die Arbeiten bestehen aus quadratisch montierten Details alltäglicher Fotografien der Stadt Berlin. Sie ordnen sich nicht willkürlich, sondern nach bestimmten Präferenzen, Valeurs, Strukturen und Themen, wobei ein zwischen Muster und Bildausschnitt changierendes Ineinander konkreter, also bild-inhaltlicher und abstrakter, bzw. formaler Eindrücke entsteht. Interessant ist, dass es kein greifbares Gesetz oder Prinzip gibt, nach dem sich eines dieser Quadrate an ein anderes fügt, obwohl sie sich jedes Mal, wie jeder zugeben wird, gut „fügen“.
Vielleicht ist es richtig, hier von „ästhetischen Korrespondenzen“ zu sprechen. Korrespondenzen sind genau jene Verbindungen, die einerseits nicht zwingend andererseits auch nicht wahllos sind. Man könnte von atmosphärischem „Arrangement“ sprechen – eine schöpferische, geschmackliche Zusammenstellung auf bestimmte Eindrücke und Wirkung hin. Ein gutes Beispiel für das Wort „Korrespondenz“ gibt übrigens die Pariser Metro. Dort sind die Fahrtrichtungen nicht wie hier in Berlin durch die Endstation bezeichnet, sondern durch die Correspondances, als die Stationen, zu denen man mit dieser oder jener Linie kommt und die aufgelistet unter den Linien stehen. Wer häufig die U-Bahn nutzt, weiß, dass man dabei von einem Ort im Netz zum anderen nicht nur auf eine Weise gelangen kann. Man kann vielmehr verschiedene Routen kombinieren um zum Ziel zu kommen. Man muss sich dabei nicht sklavisch an ein Schema halten. Andererseits darf man aber auch nicht zu willkürlich verfahren, sonst kommt man nie an.
Dies lässt sich übertragen. Horst Hinders Auswahl der einzelnen Bildquadrate erscheint „zwingend“ nur in einem ästhetischen Sinn, der von der Gesamtwirkung aus bestimmt werden könnte. Ansonsten – also nur aufgrund der Linien oder Farben der Einzelquadrate ließe sich kaum darauf schließen, warum dieser oder jener Bildrand genau an jenen stoßen sollte und nicht an einen anderen.
Die Ergebnisse dieser arrangierenden Arbeitsweise unterscheiden sich. Manche der kreierten Tafeln erinnern an den analytischen Kubismus. Nr. (9) könnte geradezu Feininger zum Vorbild haben, wenn es ein Gemälde wäre. In einigen anderen soll augenscheinlich die grafische Dimension der Architektur dieser Stadt besonders verstärkt und ins Licht gehoben werden; in einem weiteren Fall sehen wir vier Quadrate, die eher nostalgische Straßenszenen darstellen, durch regnerische Scheiben, die aber durch einen Rahmen zwölf weiterer Quadrate „gerahmt“ sind, welche nur Mauerdetails darstellen. Das Ganze ist ein Zusammenhang, d.h. die vier inneren Quadrate fallen gegen den Rahmen nicht besonders auf. Nur im zweiten Hinsehen bemerkt man, was hier konzipiert wurde.
Korrespondenz
Verbindungen, die nicht beliebig, aber auch nicht notwendig sind und dennoch einen bedeutsamen Zusammenhang herstellen, bezeichne ich schon seit einiger Zeit versuchsweise als „ästhetische Korrespondenzen“ (Vgl. Reinhard Knodt, Ästhetische Korrespondenzen, Reclam Stuttgart 1993). Wenn man will, ist jede Verbindung eine „Korrespondenz“, die nicht durch Kausalität, durch Parallelität, Kontrast oder Ähnlichkeit allein veranlasst ist, die aber auch nicht willkürlich ist.
Korrespondenzbeziehungen sind gewissermaßen etwas zwischen diesen Polen der semantischen Nichtigkeit und Triftigkeit. Nicht ganz willkürlich, aber auch nicht wirklich notwendig – im Ganzen aber zwingend, so dass oft eine Kleinigkeit, die anders ist, stören würde. Korrespondenzen sind Beziehungen, die uns nie ganz zufriedenstellen, die aber auch nie aufhören uns zu neuem Einsatz zu reizen. In einem erweiterten Sinne könnte man von so etwas wie von einem Gespräch oder von der Liebe zwischen den Dingen reden, so wie ja auch eine Liebesbeziehung nichts Zwingendes aber eben auch nichts völlig Beliebiges hat.
Es ist nicht leicht, von „einer“ Korrespondenz zu reden, da bei jedem versuchsweise klar isolierbarem Phänomen ganz offenbar nach wie vor immer vieles zugleich „mitspielt“. Wohl aber kann man doch davon ausgehen, dass es die Korrespondenz gibt, also eine letztlich schöpferische „lebendige“ Beziehung zwischen den Dingen, den Menschen und natürlich auch zwischen Dingen und Menschen, die durch Wissenschaft, nicht eingeholt werden kann. Diese Beziehung ist von Horst Hinder zu Recht dadurch bezeichnet, dass er keine Themen nennt, die er abbildet, sondern dass er „drei mal drei“ sagt oder „vier mal vier“, wenn er also auf die Mathematik des Miteinander anspielt, weswegen er aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich ein Künstler ist, auch wenn er es immer wieder gern bestreitet.
Fazit
Die Arbeiten Hinders leben im Wesentlichen durch die ästhetischen Korrespondenzen, die die Fotoquadrate aufbauen. Seine Arbeiten haben keine banale Botschaft und er schützt sich auch vor einsinniger Interpretation. Sie sind vielmehr das Spiel zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit selbst und bleiben daher auch im Auge des Betrachters vielfältig interpretierbar; eine Schwebe, die uns in den Bann zieht und die – nebenbei gesagt – auch besser in dieses Hotel passen würde als die Reproduktionen von Kennedy oder Marilyn Monroe, die hier ansonsten noch auf den Gängen hängen.
Horst Hinders Bilder wären aufgrund ihrer Struktur eine Art Fortsetzung der ambitionierten Architektur dieses Hotels und zugleich hätten sie aufgrund ihrer Motive direkt etwas mit der Stadt zu tun – ein Grund für die Angehörigen jeder Stadt auch mal ins jeweilige Marriott zu gehen, und ein Verfahren, dass sich natürlich in jedem Marriott Hotel der Welt mit den jeweiligen Fotografien durchführen ließe. Aber so weit will ich den Horizont für die möglichen Aufgaben Horst Hinders nicht fortspinnen. Ich breche lieber ab und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. [Text © Reinhard Knodt, 2013]. www.horst-hinder.de, www.reinhard-knodt.de, www.berlinmarriott.de